Ich bin angefragt worden, über die Frage von Herrschaft, Souveränität, Corona, vielleicht Friday for Future und ein paar andere Dinge ein paar Gedanken zu artikulieren.
Wer herrscht über uns?
Milo Rau hat vor Zeit einen schönen Satz formuliert, den ich gerne zitiere: Die oben und die unten sind vereint im gleichen Traum: dem vom luxuriösen Tod. Wenn das so ist, dann fragt man sich: Wo ist der Unterschied zwischen ihnen, wenn sie vom Gleichen bestimmt sind? Und was ist das, was sie bestimmt? Wie ist das, was alle beherrscht, zu definieren? Denn wenn es etwas gibt, was die »oben« und die »unten« gleichermaßen bestimmt, dann verfügt keiner von ihnen über die Herrschaft seines Lebens.
Alle von uns, die wenigstens ein bisschen Marx gelesen haben, kennen daraus ein paar Grunderkenntnisse, z.B. die über die Entfremdung: Der Mensch, der der Maschine unterworfen ist, ist entfremdet. Aber auch der Kapitalist, der den Gesetzen der Ökonomie unterworfen ist, ist entfremdet. Nur verspürt er an seiner Entfremdung eine Lust, denn er kann sich durch Geld, Besitz, Status, Konsum und größeren Handlungsrahmen von vielen anderen in der Gesellschaft unterscheiden und sich damit sozial über sie erheben. Das nennt man auch Distinktion. Ein toter Idiot ist er oder sie am Ende gleichwohl. Das ist die lächerliche Lage für alle in einer Menschheit ohne Sinn.
Der Arbeiter weist den Auszubildenden in seine Schranken, der Vorarbeiter den Arbeiter, der Abteilungsleiter den Vorarbeiter und der Manager den Abteilungsleiter, die Finanzinvestoren den Manager und der unüberwindbare Zwang im Kapitalismus nach ökonomischer Effektivität und Effizienz den Makro- wie den Mikro-Ökonomen. Man sieht: Alle sind Objekt von irgendetwas, das über ihnen steht und alle oder zu viele suchen das Objekt, das sie unter sich zwingen können. Und das nicht nur in der Produktion. Das durchzieht alle privaten und gesellschaftlichen Verhältnisse, zeigt sich in der Realität der Hierarchie in den Geschlechterrollen oder auch als brutales Kennzeichen einer rassifizierten Welt.
Natürlich macht das Durchreichen von Herrschaftsverhältnissen von oben nach unten die Menschen nicht gleich. Ob jemand flüchten muss, ob jemand zur Surplusbevölkerung gehört, die in den neuen Lagern der kapitalisierten Welt auf der Basis des nackten Lebens vegetieren soll, permanent neuer Versklavung und Missbrauch ausgesetzt, oder in den reichen Staaten im Westen mit 400 Euro im Monat auskommen muss oder bei 40.000 Euro Ausgaben am Tag auch nicht ärmer wird, markiert den Unterschied zwischen Welten, in denen die Einen sich um das tägliche Leben und Überleben andauernd Sorgen machen müssen und die andern allenfalls über Ihre Langeweile im Leben klagen.
Dieser Zustand - das darf man nicht kleinreden – ist verbrecherisch und muss immer bekämpft werden. Wenn es aber das Einzige ist was man sehen will (kleiner Hinweis an den Jungpolitiker und Zwergsozialisten Kevin Kühnert), wird es zur verlogenen Legitimation einer politischen Praxis, die am Ende die Verhältnisse nur stabilisiert. Das ist das Problem derer, die Reformismus gegen Revolution ausspielen wollen. Ihre politische Bedingung ist ihre selbstgewählte Sichteingrenzung.
Kommen wir zurück zur Frage der Herrschaft in der Welt. Mit anderen, einer Freundin und einem Freund, haben wir uns lange Zeit mit dem Film »Saló oder die 120 Tage von Sodom« von Pier Paolo Pasolini beschäftigt und dazu auch eine Reflexion auf die Bühne gestellt. Es geht, ganz kurz nur angerissen, um vier Mächtige, die über alles verfügen: über Soldaten, über Hilfswillige, über unermesslichen Reichtum und die sich von allen Schranken befreit haben, die zivilisatorisch aufgebaut wurden. Sie lassen Jugendliche entführen, foltern, versklaven und missbrauchen sie und bringen sie am Ende in der Sucht nach einer von allem entgrenzten Orgie um. Also sie machen das, was ein Teil dieser Verschwörungsgemeinde aus der Querfront heute denen, die sie als »die Herrschende Klasse« in der Welt sehen, unterstellen. Und doch sitzen diese vier Herrschenden an einer Stelle in Film zusammen und stellen fest, dass sie nicht die Macht über das Leben gewinnen, sondern dass es auch etwas gibt, das sie zwingt. Eine Erkenntnis, die ihrem Tun, zur absoluten Freiheit gegenüber allen anderen zu kommen, den Sinn abspricht.
Ich glaube, das lässt sich übertragen. Es gibt, um auf jene einfachen Sätze von Marx zurückzukommen, auch die Erkenntnis, dass sich die Millionen und Milliarden an einzelnen, gegenüber dem Gesamten als bewusstlos zu definierende Handlungen auf Basis der kapitalistischen Produktion und Reproduktion hinter dem Rücken der Subjekte für sie unerkennbar neu zusammensetzen und das Ganze in einer Macht kulminiert, die das Leben der Menschen in seine Bahnen zwingt. Ihnen erscheint das dann als Naturgesetz. Und da das inzwischen global passiert: Als quasi Gesetz des Universums. Das ist das, was der Kapitalismus erreicht hat nach seiner gewaltsamen weltweiten Etablierung: Dass die Menschen diesen Scheiß für Alternativlos halten.
Das ist ein neuer qualitativer Zustand, den wir als Bezug nehmen müssen.
Wenn das so ist, woran ich keinen Zweifel habe, wo ist dann das Subjekt, das wirklich herrscht?
Ich finde, wir sollten hier von einem anderen Ansatz ausgehen. Herrschaft im errichteten globalisierten Kapitalismus ist keine Herrschaft von Nationen, auch nicht von Konzernen, Hedgefonds, auch nicht von Blackrock mit ihren kleinen politischen Kröten wie Friedrich Merz, die sie gerne als politische Führer installieren wollen, um ihre Partikularinteressen gegenüber dem Gros der Menschheit mit staatlicher Macht weiter auszudehnen und sich für die kommenden Krisen weiter zu bewaffnen. Das sind Agglomerate und Figuren, die einfach gegenüber dem Leben der anderen feindlich sind, niederträchtige Zusammenhänge und Personen, denen normal geworden ist, am Leben der anderen Experimente durchzuführen, grundsätzlich zu jeder Gewalt bereit. Das haben KZ-Ärzte auch gemacht. Das ist der richtige Vergleich für alle neoliberalen Strategen. Dazu gehören auch die ganzen Volkswirtschaftslehrer an den Unis, die Generationen von Studierenden seit Jahrzenten die Religion eintrichtern, dass die Märkte von sich aus zum Gleichgewicht tendieren während es erwiesene Realität ist, dass »die Märkte« mit ihren bürgerlichen Politikern die Verluste sozialisieren und die Gewinne privatisieren. Und nicht erst seit der Finanzkrise 2008. Im Geburtsland der neoliberalen Staats- und Wirtschaftspolitik, im Chile der Putschisten von 1973, hat der Neoliberalismus genau nur das bewirkt, was sein Zweck ist: den Reichtum der Reichen zu steigern und die Masse der Bevölkerung in Armut zu bringen, zu entgarantieren und zu entmächtigen.
Die wirkliche Herrschaft, der wir unterworfen sind, würde ich als die einer Nicht-Subjektivität bezeichnen. Der globalisierte und längst im Selbstlauf sich befindende »freie Markt« schafft sich selber sozusagen die Motoren, die ihn immer weiter nach vorne treiben. Aber nicht sie schaffen den freien Markt sondern der freie Markt schafft sie und saugt daraus seine Kraft, mit der er sich ausdehnt und ausdehnt und wahrscheinlich überdehnen wird und uns allen in großer Destruktion dann um die Ohren fliegt.
Das ist eine Erfahrung, die inzwischen auch die scheinbar Herrschenden in der Welt bestimmt. Für mich ist hier das Emporkommen einer Figur wie Trump ein Beleg dafür.
An Trump zeigt sich einiges: Die alte Supermacht Nr. 1, die davon überzeugt war, dass der Siegeszug des Kapitalismus in der Welt immer ihr zugute kommen wird, stellt seit Jahren fest, dass die Gesetze einer verselbständigten Ökonomie auch auf sie selber zurückschlagen und sie in die Knie zwingen. Robert Kurz (einer der wenigen Denker aus der Post-68er-Zeit, die nachzulesen lohnenswert sind), hatte recht, als er nach dem Zerfall des Staatssozialismus vom Tod des Kapitalismus sprach. Das »Ende der Geschichte«, von dem Francis Fukuyama damals sprach, eine Behauptung, mit der er vorschnell verkündete, dass es keine andere Entwicklung in der Menschheit mehr geben wird als eine auf kapitalistischer Basis, wird offenkundig nur zum »Ende der Geschichte des Kapitalismus«.
Die Mentalität, die Trump hochgespült hat oder die Mentalität der Zeit, die er sich zunutze machen konnte und die ihren Ausdruck fand in »Make America great again« ist eine Antiglobalisierungsbewegung von oben, die sich mit den Globalisierungsverlierern im Souterrain der kapitalistischen Gesellschaft verbündete. Die einen hatten noch ihr Kapital (und damit ihre gesellschaftliche Macht) in den alten, lokal operierenden arbeits- und lohnintensiven Industrien (vor allem: Stahl- und fossilbasierte Industrie) und wurden chancenlos gegen die outgesourcte Produktion in den Billiglohnländern ohne politisch-kulturell sich errichtende Schranken einer ökologischen Betrachtung der Welt – die anderen haben zu spät realisiert, das ihr stolzes handwerkliches und facharbeiterisches Können dann auch nichts mehr zählt, wenn die damit verbundenen Produktionsstätten in 10-tausend km entfernte Regionen verschoben sind.
Auch die USA, die unter Obama das Russland der geschlagen Sowjetunion zur Einsicht zwingen wollten, nur noch eine lokale Macht zu sein, sind ökonomisch auch nur noch eine lokale Macht, auch wenn sie militärisch noch Weltmachtpotenz haben. Aber mittelfristig sind die Gesetze der kapitalistischen Produktion nicht militärisch auszuhebeln. Im Kapitalismus lässt sich kein gegebener Zustand einfrieren.
Mit dem Verlust eines Zustandes, in der die weltweite Ausbeutung und Vernutzung von Natur und Leben vor allem der eigenen Elite und der eigenen Bevölkerung zugute kam, ist auch die Herabsetzung des Statuts in der Welt verbunden. Wer bekommt heute noch funkelnde Augen, wenn er vom »American way of life« hört? Das sind nur noch feuchte Träume von alten Männern und Frauen, die protzige Distinktion auf die Straße brachten und die den gesellschaftlichen Tod ihrer Lebensvorstellungen noch nicht realisiert haben und ihnen bis zu ihrem realen Tod wahrscheinlich auch nur hinterherweinen werden. Hier trifft die Erkenntnis von Oskar Maria Graf zu, dass man bei vielen Leuten nur noch auf ihr Aussterben warten kann. Der Verlust dieses Habitus oder der Illusion dieses Habitus ist sozial und politisch nicht weniger wirksam als die ökonomische Prekarisierung.
Die rechte Gegenglobalisierung kämpft gegen beides: gegen den Verlust ökonomischer und gegen den Verlust sozialer Dominanz. Da aber andere bedeutende Teile der Gesellschaft in der Globalisierung mitmischen und von ihr profitieren, ohne ein gesamtgesellschaftliches Ergebnis zu produzieren, das alle integriert, muss dieser Widerspruch zur gesellschaftlichen Spaltung führen. Dabei bleibt diese Spaltung derzeit innerhalb der kapitalistischen Verhältnisse.
Das Verhältnis von Trump und Biden oder von den Demokraten und Konservativen erinnert etwas an das Verhältnis zwischen der CDU/CSU und der SPD/FDP zu Beginn der 7oer Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Während die SPD/FPD für die Ostverträge war, um in der Welt endlich den Ruch des Nazilandes loszuwerden und um dem Finanzkapital die Wege in diese Welt zu öffnen, verharrte die CDU/CSU mit ihrer verbündeten nationalistischen Kapitalfraktion, damals wirtschaftspolitisch geführt von Hanns-Martin Schleyer oder Politikern wie Filbinger oder Dregger und anderen, im Revanchismus und träumte von der Wiederaneignung von durch den Krieg verlorener Gebiete, um darüber als Größe in der Welt zu erscheinen. Nur stand das damals unter einer progressiven gesellschaftlichen Dynamik, während der heutige Zustand der westlichen Welt als regressiv zu definieren ist.
Damals brachte die Modernisierung dem größten Teil der Gesellschaft ökonomischen Profit, weshalb auch der revolutionäre Impetus aus 68 irgendwann zusammenbrach. Die innere Auseinandersetzung neutralisierte sich einfach über die Erfolgsgeschichte des Systems. Auch das nationalbornierte Kapital erkannte irgendwann, das eine Playerrolle auf dem Weltmarkt bedeutender ist als in irgendwelchen verlorenen Gutshäusern im Osten zu sitzen und Rinder zu züchten oder Kartoffeln und stolz nationale Quadratkilometer zu zählen. Deswegen führte ein zeitweilig grundsätzlicher Dissens unter den Eliten nicht zu einer Spaltung der Gesellschaft, sondern verflüchtigte sich darin, dass im Weltmarkt vom Ergebnis her der Streit sich als überflüssig erwies. Die Einzigen, das nebenbei bemerkt – ich kann und will mir das nicht sparen – die einen grundsätzlichen Dissens aufrecht erhalten haben, waren die bewaffneten Gruppen. Deswegen waren ab der mittleren zweiten Hälfte der 7oer Jahre mehr oder weniger alle gegen sie. Sie störten die Gemeinschaft der im modernisierten Kapitalismus sich Versöhnenden, zu der sich nach und nach auch viele 68er gesellten, alle umklammert in der neuen gegenseitigen Bereicherung an den Profiten, die aus der ganzen Welt in die Zentren flossen und hier für Wohlstand für alle, zumindest: die meisten, sorgten.
Der Unterschied heute ist eben, dass diese allgemeine Bereicherung an der Welt nicht mehr alleine dem alten Hegemon der vergangenen Jahrzehnte, die sattsam sich so nennende »freie westliche Welt«, quasi wie automatisch zufließt. Um im Bild zu bleiben: Dagobert Ducks Geldspeicher füllt sich nicht mehr selbstverständlich. Auch die Chinesen bauen welche und haben die ökonomische Potenz, sie zu füllen; auch die Inder werden zur globalen Wirtschaftsmacht und viele andere eifern ihnen nach. Und dies auf der Basis dessen, dass es auf Grund des akkumulierten Reichtums in der Welt für die Einzelkapitalisten immer schwieriger wird, diesen Reichtum zur Produktion von neuem Profit einzusetzen. Hier setzen die Folgen der kapitalistischen Ökonomie wie Klimakrise, Massenarbeitslosigkeit, Rückfolgen der Ausbeutung der Welt wie Corona, dem Wahn des »ständigen Wachstums« inzwischen Grenzen. Die Möglichkeit, den politisch-sozialen-kulturellen-Dissens im Innern durch Ausdehnung nach außen zu neutralisieren, verflacht sich mit der entsprechenden Rückkoppelung: In den ehemaligen Zentren der Welt bildet sich die alte weltweite Ordnung von Arm und Reich, von Zufriedenheit und Elend nun im Innern ab. Der Zustand der Welt, wie er früher war, durch geografische und nationale Grenzen sorgfältig getrennt, ist nun allüberall gleichzeitig. Armut und Reichtum stehen sich, von einer sichtbaren Mauer getrennt, an jedem Ort der Welt direkt gegenüber. Als Sprengkraft in den gesellschaftlichen Strukturen wirkt es vielleicht sogar eher in den alten, ehemals satten Gesellschaften als in den neuen, aufstrebenden. Denn hier artikuliert es den Zerfall, dort die Hoffnung auf Aufstieg aus großer Armut und Rückständigkeit. Im Negativen ist der Kapitalismus auch egalitär: er kennt – auch wenn er sich das politisch zur Herrschaftsstabilisierung und zur Spaltung der Menschheit so lange es geht gerne zu Nutze macht - im Kern keine Nationen, keine Personen, keine Geschlechter, keine Ethnien – nichts und niemand, von dem sich manche einbilden, es sei ein eigener Wert. Die Wahrheit ist: Vor dem Kapital sind in letzter Instanz alle gleich, alle die gleichen Objekte der Ausbeutung und Vernutzung. Dem Kapital ist jede individuelle Identität, jede Mode, jeder Gestus, jede Marotte, mit denen das Individuum sich vom anderen zu dispensieren sucht, gleichgültig, so lange sein Existenzkern nicht angetastet wird: dass die Menschen sich im System ausbeuterischer Produktion und dem Zwang zum Konsum bewegen. Inzwischen, wegen der Totalität des Ganzen allen so eingetrichtert, dass sie Glauben, es sei ihre eigene Wahl.
Nun stehen wir vor einem interessanten Phänomen: Jahrzehntelang hat die Linke in der Welt gegen den Neoliberalismus gestanden und steht auch heute noch da, wenngleich mit stumpfen Schwertern. Den Älteren von uns ist die Realgeschichte dieser Bewegungen noch einigermaßen präsent, die immer auch sporadisch machtvoll war: die Aufstände der Zapatisten im südlichen Mexiko zu Beginn der 90er Jahre, die Entstehung des Weltsozialforums in Porto Allegre 2001, die Kämpfe, in denen Menschen so viel Energie reingesteckt haben mit ihren Höhepunkten in Seattle, in Prag, In Genua, Göteborg oder Heiligendamm und vieles mehr. Es war der Versuch, der neoliberalen Globalisierung eine andere Globalisierung entgegenzustellen, die von Ressourcen- und Menschenschutz bestimmt war, von Solidarität als Bedingung der Neuentwicklung einer zukünftigen Menschheitsgeschichte.
Man kann nicht sagen, dass die Antiglobalisierungsbewegung wirkungslos geblieben ist. Gesellschaftlich wirksam waren diese Bewegungen vor allem im kulturellen Bereich, der dann auch in modifizierter Form auf die Innenbalance der kapitalistischen Ökonomie zurückschlug. Stichworte dafür sind vor allem Ökologie und Klimaschutz. Am Voranschreiten der Kapitalisierung der Welt, an der Durchrationalisierung der kapitalistischen Produktion unter dem einzig wirksamen gesellschaftlichen Kriterium von Effektivität und Effizienz einer kostensenkenden Produktion änderte sich nichts. Im Gegenteil: dieser innere Zwang der kapitalistischen Ökonomie feierte für sich einen Erfolg nach dem anderen – und zertrümmerte dabei eine Sicherheit nach der anderen für die in seinem System Organisierten.
Politisch und sozial dominiert heute, zumindest im alten Westen - über andere Regionen traue ich mir kein Urteil zu - der rechte Dreck in der Welt. Das darf man nicht, wie bspw. in der BRD an der Stärke der AFD oder generell den offen Rechtsradikalen festmachen. Das sind nur besondere Indikatoren. Die Reichen waren immer schon rechts und von sozialdarwinistischen Haltungen bestimmt. Inzwischen fühlt sich die gesamte Mittelschicht – und auch zu recht – im globalen Kampf um den schnellsten Profit abstiegsbedroht und kämpft mit harten Bandagen um ihre Stellung. Niemand will absteigen. Keiner möchte zum Proletariat gehören. Für Teilen und Solidarität ist da kein Platz.
Wenn Trump in den USA 70 Millionen Anhänger hat, dann ist das kein Tatbestand, der sich unter Zuhilfenahme alter Sozialstaatskonzepte der Befriedung einfach aus der Welt schaffen lässt. Abgesehen davon, dass die materiellen Ressourcen für diese Konzepte unter Beibehaltung der bestehenden Verhältnisse nicht vorhanden sind. Das alte Konzept der Armenfütterung, um mehrheitlich soziale Ruhe herzustellen und den Rest dann polizeilich erledigen zu können, funktioniert nicht, denn den Armen und »Freigesetzten« reicht das Füttern nicht, nachdem sie erahnen, dass es für sie überhaupt keinen Zukunftsplatz in der der Welt des Kapitals 10-null mehr gibt, dass sie ebenso, wie viele Menschen in anderen Regionen der Welt, zu den Überflüssigen, zur Surplusbevölkerung gehören, die das System zur Aufrechterhaltung seiner Produktion nach den rasenden technologischen Fortschritten in der Finanz- und Warenproduktion einfach nicht mehr braucht, sie, solange es geht, vielleicht noch verwaltet, aber auch das ist für die Zukunft fraglich und man weiß nicht, welche faschistoiden Vorstellungen ihnen gegenüber noch entwickelt werden.
Die Brüche im System produzieren aber nicht seine Infragestellung, sondern offenkundig eine Art kapitalismuskonformer Gegenrevolution, die zurück zu einem vergangenen Zustand will, der mit Souveränität im eigenen Leben und mit grundsätzlicher Bedürfniserfüllung identifiziert wird, jedoch unmöglich innerhalb der Zwänge der kapitalistischen Verfasstheit der Welt wieder erreicht werden kann. Auch hier gibt es kein Zurück.
Das ist der zentrale Widerspruch. Wer dazu aus der Geschichte lernen will, dem sei hier das Buch »Der ferne Spiegel« von Barbara Tuchmann empfohlen. Sie hat das Grauen analytisch und akribisch aufgeführt durchblickt, was passiert, wenn eine Epoche – hier die des Mittelalters – in sich zusammenbricht, eine neue Lebensvorstellung aber blockiert bleibt, weil die alten Verhältnisse weiterhin mehr Sicherheit verheißen als neue, die niemand kennt.
Man darf sich keine Illusionen machen. Die, die sich gegen Trump und die rohe Gewalt der Straße stellen, sind, was ihre Führer und ihre Elite betrifft, vielleicht im Auftreten etwas ziviler, in der Sache jedoch von der gleichen Brutalität. Tariq Ali[1] hat in seiner Analyse zur us-amerikanischen Situation natürlich recht, wenn er feststellt, dass der kommende neue Präsident der USA, Biden, von der Wallstreet mehr Wahlkampfspenden bekommen hat als Trump und im Unterschied zu Trump bereit sein wird, ebenso wie die Bush-Regierung, die er unterstützt hat, Kriege und militärische Macht einzusetzen, um den Aufstieg anderer Konkurrenten in der Welt zu behindern. Aus dem bürgerlichen Staat und all seinen Institutionen wird nichts kommen, was Hoffnung auf eine grundsätzliche Änderung nähren könnte.
Wenn es aber keine grundsätzliche Änderung gibt, keinen Bruch mit der bisherigen Geschichte der kapitalistischen Produktionsweise und ihren Produktionsverhältnissen, dann bedeutet das nichts anderes, als dass die Logik des Kapitalismus sich bis in dessen Selbstzerstörung fortsetzen wird. Das kündigt kein automatisches Ende des Systems an, aber eine Serie kommender ökonomischer und gesellschaftlicher Zerstörung.
In den alten westlichen Staaten zeigt sich keine Kraft der Transformation in eine neue – aus meiner Sicht notwendig kommunistische – Lebensgrundlage. In den Neu-aufstrebenden Weltmächten ist die Vorstellung einer Transformation der gesellschaftlichen Lebensgrundlage hin zu einer gänzlich anderen vielleicht als Ideologie vorhanden, jedoch nicht als kollektive Feuerstelle, zu der sich viele hingezogen fühlen und aktiv werden. Aber auch dort destruiert die mit dem technologischen Fortschritt verbundene, ins Entgarantierte abgeschobene Freisetzung von menschlicher Arbeitskraft, die sozialen Strukturen. Auch diese Gesellschaften – heute vielleicht noch intakt - sind nur zerstörte Gesellschaften auf Abruf.
Die ganz Armen und Verelendeten, die Flüchtenden und die in Kriegsverhältnissen Lebenden, die von den Sorgen des nackten Überlebens bestimmt sind, haben keinen Raum dafür, grundsätzlich über eine neue Welt nachzudenken. An die haben wir keine Forderung zu stellen. Die Frage der Änderung der Welt lässt sich nicht mehr an glorifizierte Befreiungsbewegungen in den Armutszonen des Systems abschieben; sie fällt an uns zurück.
Ist unsere Lage deswegen aussichtslos? Aus meiner Sicht kann niemand darüber ein verlässliches Urteil bilden. Die Dinge, die passieren, sind nicht mehr unter Kontrolle. Gleichzeitig sind sie von historischer Bedeutung. Die Erfahrung mit dem Corona-Virus wird wahrscheinlich tiefere Spuren in der Menschheit hinterlassen als die politischen Ereignisse der Gegenwart. Das gleiche gilt für die Klimakrise. Die Ereignisse mehren sich, die uns alle dominieren, egal in welchem unterschiedlichen Ausmaß. Auch hier stellt sich die Frage nach der Souveränität für die Menschen. Im kapitalistischen Einordungsprozess sind sie in der Mehrheit selber schon längst zu versachlichten Figuren umgewandelt, denen alles vorgegeben wird. Inzwischen betrifft es eben auch die Herren, nicht nur die Knechte. Deswegen ist es plausibel, nicht mehr von Herren und Knechten zu sprechen sondern nur noch von Knechten, die Knechte befehligen. In diesem Verhältnis sind aber nur noch Positionswechsel möglich, nicht mehr die der Aufhebung des ganzen falschen Zustandes. Der Virus zeigt sich souveräner als jede Regierung. Der Klimawandel genauso. Auch das wirft die Frage nach Herrschaft auf und verweist darauf, dass sich die ökonomischen Prozesse in der Welt automatisiert haben und nur noch ihrer Selbstlogik folgen können. Mit der Lächerlichkeit des Liedes vom »grünen Kapitalismus« wird man dagegen nicht ankommen.
Die größere Bedrohung kommt aber von denen, die die Krise nutzen wollen, um die Ausbeutungsverhältnisse und die Festzurrung der Unterwerfung voranzutreiben.
Niemand von uns möchte neben Corona-Leugner und Querfrontidioten stehen. Klaus Klamm stellte letzte Woche im ajour-Magazin richtig fest:
»Gesellschaftliche Opposition hat die Todesdrohung bitterernst zu nehmen, die vom Virus ausgeht. Weil ein beachtlicher Teil der Menschen zwischen Gedanken- und Rücksichtslosigkeit oszilliert, sind die staatlichen Verordnungen alternativlos.«[2]
Das ist auch eine bittere Wahrheit über den gesellschaftlichen Zustand: entweder wird Corona geleugnet oder alle staatlichen Maßnahmen hofiert. Wenn ständig nun vom notwendigen »Digitalisierungsschub« gesprochen wird als Antwort auf die Krise, dann wissen wir aus Erfahrung, dass mindestens zwei zentrale Momente draus folgen werden: 1.) Die Überwachung der Gesellschaft wird ausgebaut. 2.) Die Arbeitsplätze werden der neuen Technologie und der daraus resultierenden Rentabilität unterworfen und die nächsten garantierten Stellen werden in ungarantierte umgewandelt, wenn nicht gleich abgeschafft. Unter dem Aspekt des Gesundheitsschutzes, der notwendig ist und notwendig wäre, wird die nächste Drehung in der Spirale von Ausbeutung und Unterwerfung vollzogen.
Man darf sich dabei nicht täuschen lassen. Die finanziellen Absicherungen, die der Staat mehr oder weniger großzügig seinen Bürgern in dieser Krise zukommen lässt, sind nicht der Ausdruck dafür, dass die Politik, was eigentlich ihre Aufgabe wäre, die Herrschaft über alle gesellschaftlichen Prozesse nun eingenommen hätte, einschließlich der kapitalistischen Ökonomie. Diese Gelder stammen nicht mal aus einer Umverteilung, sondern sie stammen aus einer Neuverschuldung, die die Masse der Gesellschaft irgendwann zurückzahlen muss. Vor allem aber bleibt das Kapital dabei der nichtfassbare Hegemon: Der Staat tritt hier als Gesamtkapitalist auf in Schutzfunktion für das ganze System. Dazu muss der Einzelkapitalist mit seinem grundsätzlich singulären Interesse eben auch mal Einschränkungen und Verluste hinnehmen.
Wir befinden uns offensichtlich in einem historischen Umbruch. Historische Umbrüche haben ihre Zeit. Früher vollzogen sie sich im Zeitraum von Jahrhunderten, heute vielleicht in wenigen Jahrzehnten. Wie immer ist es für den Menschen schwer, diesen Umbruch in seiner Gegenwart wirklich zu erkennten. Im Nachhinein ist immer alles einfacher. Aber dieses Nachhinein ist heute schon lange da. Erkennbar ist die grundsätzliche Krise des Kapitalismus schon seit Jahrzehnten. Erkennbar ist in allem aber auch, dass es auch noch einmal eine neue Periode des offenen Faschismus geben kann, in der die Reichen ihre Besitztümer mit dem Instrumentarium, das ihnen der bürgerlich-demokratische Staat bis dahin aufgebaut hat, verteidigen.
Wir stehen nicht einzelnen Momenten der kapitalistischen Wirklichkeit gegenüber, denen gegenüber wir unversöhnlich sein müssen, sondern dem System als Ganzes. »Alle müssen gehen«, las ich vor kurzem als Zitat. Das ist politisch erst einmal eine gute Parole. Alle müssen gehen, die diese Verhältnisse fortsetzen wollen. Wenn es stimmt, dass wir in einer historischen Umbruchphase sind, dann muss alles auf den Tisch, dann steht alles zur Debatte. Das betrifft die Perversion, dass Einzelne und ihre Familienclans über mehr Vermögen verfügen als das Gros der Menschheit; das betrifft die Frage der Produktion von Gütern als eine, die gesellschaftlich und politisch kontrolliert sein muss. Das betrifft die Eigentumsfrage an den Produktionsmaschinen und auch die, ob das, was allen gehört irgendwo privat sein kann. Das betrifft die Frage der politischen Repräsentanz der Menschen, also auch die Frage der bürgerlichen Demokratie, die heute eine der Überwachung und Kontrolle der Gesellschaft ist, eine ihrer Verwaltung von als alternativlos gesetzten ökonomischen Zwängen ist und eine der Entmündigung der Masse. »Alle müssen gehen«, die diese Verhältnisse aufgestellt haben und wir brauchen - hier stimme ich Agamben zu - einen Stillstand, zumindest eine Verlangsamung, um die Welt umbauen zu können bevor sie über uns in einer destruktiven Entgrenzung zusammen bricht. Wer heute die Revolution nicht will, will gar nichts. Das ist die Erkenntnis, an der wir nicht vorbeikommen. Die alte Welt ist verloren. Sie hat selber dafür gesorgt. Das müssen wir als zentralen Bezug für unser Leben nehmen. Die Zeit scheint reif. Die Frage nach dem revolutionären Subjekt stelle ich nicht. Wenn wir es nicht sind, sind es die anderen auch nicht.
Ich spreche mich hier nicht für eine Haltung aus, die man vielleicht als heroische Position oder früher auch als Avantgarde bezeichnen könnte. Aber die Fortsetzung des Kapitalismus betrifft die Frage des Lebens als Ganzes. Wir kommen daran gar nicht vorbei. Es macht keinen Sinn, woanders nach etwas zu suchen. Entweder hier oder gar nicht.
Sozialismus oder Barbarei.
Danke.
[1] https://tagebuch.at/politik/eine-geschichte-von-niederlagen/
[2] https://non.copyriot.com/staat-und-virus-linke-konfusion-in-der-pandemie/