Zum bewaffneten Kampf der RAF
Nächstes Jahr, am 14. Mai, jährt sich zum 50. Mal die Befreiung von Andreas Baader, ein Ereignis, das in der Geschichtsschreibung als offizielle Gründung der RAF gilt.
Können wir heute davon sprechen, dass die RAF Geschichte ist, es also auch eine Geschichtsschreibung gibt, in der sie im Allgemeinen der Zeit betrachtet – und auch bewertet wird?
Wenn ich mir die kleinen Wellen anschaue, die diese Veranstaltung hier vor Ort schlägt, also meine Einladung von einer Gruppe der Falken, die dazu etwas wissen und diskutieren will, dann auf ein erregtes Distanzieren stößt, sage ich mir: Nein, die RAF ist immer noch kein geschichtliches Ereignis, sie scheint aktuell zu bleiben.
Das bedarf dann noch einer besonderen Reflexion.
50 Jahre seit Gründung der RAF – ihre Auflösung war 1998, also 28 Jahre später, immerhin auch schon 22 Jahre her – scheint uns selber kein so großer Zeitraum zu sein. Als ich kürzlich ein anderes RAF-Mitglied aus dieser Zeit auf diesen Zeitraum eines halben Jahrhunderts hinwies, war er ebenfalls überrascht. Da wir uns von unserer eigenen Geschichte nicht abtrennen, also auch immer in ihr leben, in ihr denken, erinnern oder reflektieren, erscheint sie uns selber weniger als Geschichte und mehr als Ereignis und damit auch als Raum, der noch nicht wirklich durchmessen ist.
1970, im Gründungsjahr der RAF, wurde ich 18 Jahre alt. 50 Jahre zurück, so wie heute eben die RAF-Gründung 50 Jahre zurück liegt, lag die November-Revolution. Ein Ereignis, unendlich weit weg. Dazwischen lag die Weimarer Zeit, die Nazi-Zeit, der Weltkrieg II, der Kalte Krieg, die Restaurationsperiode der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft, die Kommunistenverfolgung und der Kalte Krieg, die Entpolitisierung der inneren Klassenkämpfe auf den Zustand ökonomischer Verteilungsfragen, die Revolution in Kuba, die Kolonialverbrechen in Afrika und der antikoloniale Kampf dagegen, der Vietnamkrieg, und endlich der Aufbruch in jener Zeit, die wir mit der Chiffre »68« bezeichnen und den wir als unseren betrachten.
Wir fanden uns ohne tradierte Geschichte wieder. Die Geschichtsschreibung der revolutionären Linken war zerstört, fragmentiert, in das Vergessen-Sein abgedrückt worden. Ich bin mit 19 Jahren einmal ein paar Monate zur See gefahren und traf auf dem Schiff einen älteren Mann, der mir, als wir alleine waren, erzählte, dass er KPD-Mitglied war und dafür später eine Zeit lang im Gefängnis saß – wohlgemerkt: in der BRD, nicht in der Nazi-Periode. Als ich ihn später in einem größeren Kreis darauf ansprach, zuckte er zusammen und erklärte mir hinterher, ich solle ihn bloß nicht in der Öffentlichkeit auf diese Vergangenheit ansprechen. Die Vergangenheit war für ihn verloren und tabuisiert.
Mit dem Sieg der Nazis begann die letzte Zerschlagung systemoppositioneller Positionen in der Gesellschaft, etwas, das durch das Bündnis kaisertreuer und rechtsnationaler Militärs und der sich durch Kriegsbeteiligung am WK I korrumpierten Sozialdemokratie mit ihren Noskes und Eberts damals schon in Gang gesetzt war.
Der restaurierte Kapitalismus nach 45 mit dem in seiner von außen erzwungenen neuen Bürgerlichkeit – es ist kein Verdienst der deutschen Eliten, es wurde ihnen durch die Alliierten diktiert - und den darin bruchlos integrierten Nazis, hat an dieser Vernichtung, an diesem alten Klassenhass der Nazis und der mit ihnen verbündeten Bourgeoise angesetzt, sie beibehalten und vollendet: Dafür steht das KPD-Verbot 1956. Man bekommt heute noch Atemnot wenn man sieht, wie die in die BRD übergewechselten Verbrecher aus der Nazi-Zeit in der bundesdeutschen Justiz und Polizei, im BND und Verfassungsschutz oder wie in den Medien weiterhin die Kommunisten verfolgen und sanktionieren konnten. Es sagt alles über diese Zeit und Wagenbach hatte Recht, als er 1996 auf dem Ulrike-Meinhof-Kongress an der TU in Berlin darauf hinwies, dass die bestimmenden Figuren in der Nachkriegs-BRD und ein Großteil ihrer Gesellschaftsmitglieder »unbelehrbare Nazis waren, mit denen man nicht diskutieren konnte und nicht diskutieren wollte«.
Wir, die wir in dieser Zeit aufgewachsen sind, waren also in gewisser Weise geschichtslos. Nicht, dass man uns keine Geschichte anhing. Das wurde dauernd versucht, den Kommunismus und Sozialismus als das Schlimmste auf der Welt zu vermitteln. Aber wir hatten von unserer Seite her keine Klassenkampfgeschichte mehr. »Widerstand« gab es nur in der Perversion, die ausbeuterischen Verhältnisse zu verteidigen. Wir hatten nur noch die Geschichte der sich restaurierenden bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft und die war einfach nur verlogen.
Ich erwähne das deswegen, weil, wenn man über die Zeit nachdenkt und den Aufbruch darin, dann muss man dazu wissen, dass wir gezwungen waren, alles neu zu beginnen. Wir wussten wenig. Aber das lag nicht an uns. Wir mussten die Wahrheit über die Verhältnisse selber suchen. Von denen, die das System verteidigten, wurde alles verschleiert. Wir wussten zuerst intuitiv, dann aber als Begriff, dass die alten Klassenkampfformen, die Arbeiterbewegung und die mit ihr verbundenen Kampfformen offenkundig geschichtlich verloren hatten, mit der verheerenden Folge, dass 12 Jahre lang das reine Verbrechen in Europa wüten konnte. Wir wussten, dass der Real-Sozialismus ein erstarrter Klassenkampf war, dass der emanzipatorische Impetus, der mit jeder Revolution verbunden ist, natürlich auch mit der Oktoberrevolution in Russland, im Aufbau einer Staatlichkeit, die zum einen nachholend war (der Zarismus hatte in Rußland eine in Europa völlig veraltete Staats- und Gesellschaftsstruktur hinterlassen), zum anderen in der Verteidigung gegen eine von außen angreifende internationale Konterrevolution geopfert worden war. Wir mussten also den Klassenkampf neu erfinden. Aus der Vergangenheit war kein Mut zu ziehen.
Und irgendwie ahnten wir, dass die Zeit da war für einen Bruch mit den bisherigen Verhältnissen. In der Reife der Zeit lag damals, dass einem schlagartig klar wurde, wo man hingehörte und wohin nicht. Man gehörte zu denen, die alles verändern wollten und nicht zu denen, die, wenn vielleicht auch reformiert, die Welt der Vergangenheit fortsetzen wollten. Plötzlich war die Vorstellung einer anderen Welt konkret, sie war da und sie war befreiend, ein neues Atmen, ein Zerfetzen des Nebels der Gewohnheiten und es brachte die notwendigen Tugenden für den Aufbruch mit sich: Unerschrockenheit, Mut und Übermut, völliger Verlust der Angst vor Autoritäten und Traditionen, Selbstsicherheit und Selbstvertrauen gegenüber einer Welt, die nicht die unsere war.
Neu erfinden heißt aber auch, in allem neue Erfahrungen zu sammeln, einschließlich möglicher Fehler, die im Kontext eines sich fortsetzenden Klassenkampfes gewiss weniger auftreten. Aber das hatten wir uns nicht ausgesucht. Wir mussten es tun und es gab keinen alten Klassenkampf mehr, den wir fortsetzen konnten.
Und wir haben uns natürlich nach den Gründen der Niederlage des alten Klassenkampfes gefragt. Ich bin 1973 in Hamburg für ein Jahr ins Gefängnis gekommen als Hausbesetzer. Wir hatten ein Haus besetzt mit der expliziten Absicht, etwas Grundsätzliches gegen den Kapitalismus zu machen. Grundsätzlich bedeutete für uns, dass wir einen Raum kämpfend erobern, in dem jedes kapitalistische Prinzip gebrochen ist, das der Verwertung, das der Objektstellung des Menschen, das mit der bürgerlichen Gesellschaft verbundene System aus Schuld und Sühne, Fehler und Bestrafung, Anpassung und Unterwerfung. Der Staat in Gestalt der von der SPD geführten Stadt Hamburg hat das auch so gesehen und einen militärischen Einsatz gegen uns befohlen: Die Räumung war der erste Einsatz eines der neugegründeten SEKs bzw. in Hamburg hieß es MEK, die während der Räumung auch scharf geschossen haben. Ich war ein Jahr lang im Gefängnis, vollständig isoliert und habe viel durchgemacht, aber auch viel gelesen, darunter auch das Buch von Max Hölz: »Vom weißen Kreuz zur roten Fahne«. Vor dem Hintergrund unserer unmittelbaren eigenen Erfahrung, dass auf unsere Hausbesetzung reagiert wurde als hätten wir einen bewaffneten Angriff auf den Staat durchgeführt, mit Gefängnis, Totalisolation, der Gewalt im Vollzug mit seinen ganzen Zurichtungsversuchen, fand ich die Prozessrede von Max Hölz Ende der 20er Jahre, in der er selbstkritisch bemerkte, dass die Linke immer zu harmlos ist, dass sie Mühe mit den revolutionären Kampfformen hat, treffend für unsere eigene Situation. Wir wussten längst vorher, auf was wir stoßen werden und haben es dennoch verdrängt und anders gehandelt. Wir, die wir nach der Hausbesetzung ins Gefängnis kamen, waren wegen Banalitäten hart verurteilt worden und ich zählte zu denen, die daraus den Schluss zogen, dass unser Kampf ein wirklicher sein muss und sich diese Unverhältnismäßigkeit nicht wiederholt.
Jahre zuvor hat es den polizeilichen Schuss auf Benno Ohnesorg gegeben, eine von der Justiz dann gedeckte staatliche Exekution, ein Jahr später das Attentat auf Rudi Dutschke, ideologisch vorbereitet und mitinitiiert von den Medien des Springer-Konzerns und der Deutschen National-Zeitung, aber auch von der rechten Berliner SPD-Fraktion unter dem regierenden Bürgermeister Klaus Schütz.
Um uns herum war eine herrschende Klasse, die wie selbstverständlich zur Gewalt griff und dabei die Unterstützung einer altnazistisch geprägten Mehrheitsgesellschaft hatte, die gewalterprobt war, die jahrelang im Krieg, Mord und Terror gegen andere Völker, gegen Juden, Kommunisten, Roma und Sinti, religiös oder sexuell Verfolgte geübt war und von dieser Sozialisation auch nicht mehr weg kam. Die gesamte Gesellschaft war gewalttätig aufgeladen. Ich erinnere immer wieder daran, dass 1970 in Konstanz der Facharbeiter Hans Obser einen 17jährigen Jugendlichen in Ausbildung auf der Parkbank mit einem Bolzenschussgerät tötete, weil er ihn für einen Gammler hielt und dafür von einer verständigen Justiz zu tatsächlich 3 Jahren Freiheitsstrafe verurteilt wurde, gewiss nicht, weil man die Tat billigen wollte, offensichtlich aber, weil man sie verstehen konnte.
Die Erzählung von der »Demokratie in der BRD« ist eine Lüge, wenn man diese Tatsachen wegdrückt. Von der Form her mag es stimmen, vom Inhalt her nicht und deswegen konnte der »Wirtschaftswunderminister« und spätere Bundeskanzler Ludwig Erhardt auch die Ständeordnung einer »formierten Gesellschaftsordnung« propagieren.
Angela Merkel toppte das später mit dem Begriff der »marktkonformen Demokratie«.
Mit dieser Gesellschaft konnte man keine Gemeinschaft sein und nichts gemein haben. Von ihr wollte man getrennt sein und eigene Wege gehen. Diese Trennung war nur möglich als Bruch, als eine Haltung, die sich gegen das Ganze stellte. Denn es war nicht nur die Mentalität der Mehrheitsgesellschaft für uns falsch. Das ganze Konstrukt einer kapitalistisch verfassten Gesellschaft war für uns falsch und bedrohend.
Wenn wir an die Zeit damals denken, dann haben wir nicht nur die Haltung der altnazistisch geprägten Mehrheitsgesellschaft vor uns. Wir haben es auch mit einer Zeit zu tun, in der das Kapital in einer Verwertungskrise war und zu einem Modernisierungsschub ansetzte. Die Verwertungskrise war offenkundig. Das ganze Geschwafel von der »sozialen Marktwirtschaft« war ökonomisch an eine Grenze gekommen. Das »Wirtschaftswunder«, von dem die bürgerliche Ideologie immer erzählt, müsste man eigentlich in den Bereich der Satire übertragen. Nachdem die Deutschen so fanatisiert waren, dass sie ihrem Führer bis zum letzten Tag folgten und mit aller Gewalt niedergeschlagen werden mussten, war auch das Land zerstört und in der Tat brauchte man zur Aufhebung dieser Zerstörung Massen an Arbeitskräften. Wenn man heute auch wieder alles zerstören würde, käme man morgen dann auch für eine längere Zeit wieder zur Vollbeschäftigung zurück. Aber dieser Wiederaufbau, international auch aus politischen Gründen gegen den Realsozialismus mitfinanziert, war Mitte der sechziger Jahre abgeschlossen und damit trat auch in der BRD die Normalität der kapitalistischen Produktion und ihrer Krisenzyklen wieder in den Vordergrund, der Zwang zur Senkung der Produktionskosten und damit zur Abschaffung von Arbeitskraft.
Auf diese Mitte der sechziger Jahre aufbrechende Krise reagierte das Kapital mit Ausweitung der Ausbeutungsbereiche. Damals begann das, was heute allumfassende Realität im Kapitalismus ist: Auch das private Leben wurde der Verwertung unterworfen. Heute sind alle Lebensbereiche dem Prinzip der Produktion und des Konsums unterworfen. Heute scheint es keine Welt mehr zu geben, in der das Prinzip der Verwertung von Natur und Leben nicht dominierend ist.
Diese Kombination aus reaktionärer Gesellschaftlichkeit und Übergreifen der Verwertung auf die bisher vom Kapital noch nicht der Verwertung unterworfenen Lebensbereiche, machte die Besonderheit der BRD in der westlichen Welt in den sechziger Jahren aus und ist, neben den internationalen Geschehnissen, für die der Vietnamkrieg pars pro toto steht, der Hintergrund, auf dem sich hier die Revolte vollzog, die als Massenhafte 1968 ihren Höhepunkt erreichte.
Und hier können wir dann über den bewaffneten Kampf sprechen. Das Kompendium »1968« war, nach der Oktoberrevolution, der zweite, weltweit relevante politische Einbruch von links in die Welt des Kapitals und hatte als Kern die Vorstellung, das gesamte Leben zu ändern. Das macht jenes »’68« so radikal. Wir erkannten die Welt um uns herum als eine, die wir nicht mehr wollten und plötzlich tauchte eine andere auf, nicht als Traum oder Utopie, sondern als konkrete Möglichkeit. Einem solchen geschichtlichen Moment, in dem das durch das alte System versperrte Fenster zu einer anderen Vorstellung von Leben in gewisser Weise als schmalen Spalt aufging, musste man folgen. Man musste versuchen, das Fenster völlig aufzustoßen. Das war eine wesentliche soziale Triebkraft in 68. Insoweit ist 68 eine wirkliche Revolte gewesen. Ihre später hervortretende Schwäche war, dass die hergestellte und ersehnte Gegengesellschaftlichkeit über die Änderungen im Überbau des Systems nicht heraus kam. Die französische Revolution war möglich, als das Bürgertum mit seinen Manufakturen die gesellschaftliche Produktion und damit deren Versorgung in der Hand hatte und daraus den unnütz gewordenen Adel politisch entmachten konnte. Die 68er-Bewegung kam an die gesellschaftliche Produktionssphäre nicht heran. Dazu fehlte eine politisch bewusste Arbeiterklasse. Deswegen wurde die 68er-Bewegung nicht wirkliche Gegengesellschaft sondern stellte Gegengesellschaftlichkeit nur im Bereich des Überbaus her. Damit war sie mittelfristig integrierbar. Denn im Überbau lässt sich zwar die Vermittlung des Kapitalismus verändern, aber nicht sein Prinzip. An dieser Schwäche ist die radikale Haltung aus 68 nach und nach verblasst, als Hoffnung aber ist sie noch lange geblieben. Nur wusste diese Hoffnung keinen realen Ausdruck mehr in der eigenen alltäglichen Praxis zu finden. Die frontale Erschütterung des Kulturellen, die aus 68 kam und sich auf den Straßen dann irgendwann tot lief, suchte ihre Neben- und Fluchtwege. So entstanden die Ideen des »Marsches durch die Institutionen«, so entstanden die K-Gruppen, so entstanden kulturelle Basis-Initiativen mit antiautoritären Kinder- und Jugendgruppen, die im Bereich der Erziehung und Bildung den Ansatz für eine völlig andere zukünftige Gesellschaft sahen. Die Frauenbewegung entstand. Und es entstanden auch die Bewaffneten Gruppen.
Sie unterschieden sich aber von allen anderen im Realen. Sie verweigerten jede Zusammenarbeit und jede Integration und sie negierten alle Versuche der Käuflichkeit. Sie bestanden darauf, dass der Kapitalismus ein vernichtendes System ist und gestürzt werden musste. Ihre Praxis war nicht auf später ausgerichtet sondern auf den Aufbau von Gegenmacht jetzt. Es ist in Wirklichkeit nicht die Bewaffnung, die den bewaffneten Gruppen vorgeworfen wird und die bis heute dazu führt, dass sie im öffentlichen Raum tabuisiert werden. Das System selber hat überhaupt kein Problem mit Bewaffnung und Gewalt. Auch im extralegalen Surplusbereich des Systems, gemeinhin Kriminalität genannt, ist Bewaffnung ein gewöhnliches Phänomen und führt zu keiner besonderen politischen Erregung.
Was den bewaffneten Gruppen vorgeworfen wird, ist ihre soziale und politische Intransigenz, ihr bedingungsloser Einsatz für den Sturz des kapitalistischen Systems, an dem jeder Integrationsversuch aussichtslos war und scheitern musste. Es ist der Versuch dieser Gruppen, ein »Außen« herzustellen, ein »Anderes«, das die Gesetze und Regeln der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft nicht anerkennt, sondern etwas Neues schaffen will , das auf Seiten des System dazu führt, eine andere Art von Krieg auszulösen, das die Unmöglichkeit des »Außen« und des »Anderen« als unantastbar zu setzen versucht. Denn das »Außen« und das »Andere« ist untrennbar verbunden mit der Frage nach dem Sinn der bestehenden »Normalität« und der Möglichkeit von Gegenmacht und Gegensouveränität, um eine andere, kapitalismusfreie Welt zu schaffen.
Man kann 1968 auch lesen als einen revolutionären Aufbruch, der abgebrochen wurde. Wenn man es so liest, muss man feststellen, dass diese konkret aufgeworfene Frage in ihrer Antwort vakant blieb. Aber damit verschwindet die Frage nicht. Und sie verschwindet schon gar nicht, wo sie im unmittelbaren Leben konkret aufgetreten war. Dieser Abbruch war für viele, für die 68 mit der Hoffnung auf das Ende des Kapitalismus verbunden war, etwas Unerträgliches.
Hier liegt der Grund, warum die bewaffneten Gruppen noch über lange Jahre hinweg als Teil der eigenen linken Geschichte begriffen wurden. Sie sind zur politischen Avantgarde mutiert und haben stellvertretend für eine oder zwei Generationen die Möglichkeit der Revolution oder eben ihre Unmöglichkeit in dieser Zeit praktisch erfahrbar gemacht.
Was waren die bewaffneten Gruppen, was war die RAF, die Bewegung 2. Juni, die Roten Brigaden? Ich kann, aus einer historisierenden Sichtweise, keinen Sinn darin erkennen, sie über ihre Aktionsgeschichte zu definieren. Manche Aktionen waren gut, manche politisch oder sozial sinnvoll, manche sozial und politisch falsch. Wie überall im Leben reiht sich auch hier das Richtige am Falschen oder umgekehrt. Und, zurückkehrend auf das Eingangs erwähnte: Es gab keine praktische Erfahrung. Die Erfahrung musste erst gemacht werden. Es musste und muss eine neue Form – und ein neuer Inhalt – des revolutionären Widerstands und Kampfes her.
Ich glaube, wenn man die Besonderheit der bewaffneten Gruppen begreifen will, muss man sich mit der grundlegenden Frage beschäftigen, was historisch mit ihnen aufkam und auftrat.
Der Kapitalismus lehrt uns und zwingt uns durch einen alternativlos vergesellschafteten Produktionsprozess zur Selbsteintrichterung einer falschen Existenzform durch ständig sich wiederholendes Handeln in seinem Produktions-und Konsumprozess, dass seine Höhle, in der das Leben des Menschen eingefangen ist, dessen ausschließlich mögliche Existenzweise ist.
Der Kommunismus – und der Sozialismus auf dem Weg dahin – sprach in seiner alten Form davon, dass die Höhle ein Ort der bleibenden Unkenntnis, Unfreiheit und Ausweglosigkeit ist. Er wollte durch den Klassenkampf die Menschheit aus dieser Höhle herausführen. Sein Klassenkampf war aber auch verbunden mit der linearen Entwicklung des Technologieprozesses der Menschheit als Bedingung, ihn von den Unbilden des Reiches der Not zu befreien. In der Sicht auf diesen sich fortschreitenden Technologieprozesses wies er Verwandtschaft mit seinem Feind Kapitalismus auf. Heute wissen wir, dass die lineare Fortschreibung technisch-wissenschaftlicher Erkenntnisse und in Folge ihrer Umsetzung das Reicht der Not möglichweise eher vergrößern als verkleinern.
Slavoj Žižek sprach in einem Vortrag mit dem Titel »Mut zur Hoffnungslosigkeit« vor etwa 1 ½ Jahren im Schauspielhaus in Hamburg das Höhlenbeispiel von Platon an meinte, dass bewaffnete Gruppe wie die RAF vielleicht die historische Aufgabe angenommen haben, die Menschen aus der Höhle zu vertreiben, zur Freiheit zu zwingen.
Das Kritisierbare hieran ist, dass niemand zur Freiheit gezwungen werden kann. Vielleicht aber auch, das Avantgarde notwendig ist und gleichzeitig Scheitern muss, denn sie trägt den Widerspruch in sich, dass, wenn sie Masse wird oder sich verallgemeinert, sie sich selber aufhebt und darin zu ihrer eigenen Negation wird. Sie existiert nur als Antrieb, nicht als Betrieb des Ganzen. Insoweit konnte sich der Satz von Ulrike Meinhof, dass die Stadtguerilla der »kleine Motor ist, der den großen in Gang setzt«, nicht realisieren.
Das Produktive am Höhlenbeispiel ist, auf eine Welt hinzuweisen, die außerhalb der Höhle liegt. Wir erinnern uns alle an Francis Fukuyama, der nach dem Zusammenbruch des Realsozialismus vom »Ende der Geschichte« sprach. Dieses »Ende der Geschichte« meint genau, dass es nichts anderes als die Höhle gibt, dass eine andere Welt nicht existieren kann.
Ich möchte im Kontext der bewaffneten Gruppen noch einen anderen Gedanken aufgreifen. Den des »Deus ex machina«, der Gott aus der Maschine im griechischen Theater, wo die Götter in einer Art von Flugmaschine auf die Bühne hinabschwebten und nach ihren eigenen Gesetzen alles änderten.
Inhaltlich ist es die unerwartete Lösung, das Ändern aller Regeln, das Setzen eines Prozesses auf null und damit auf einen Neuanfang. Es ist das Durchbrechen von Spielregeln, die den Fortlauf der Dinge beherrschen und damit unvermeidlich machen. Der »Gott aus der Maschine« taucht hier auf und entscheidet, den Dingen und Prozessen einen ganz anderen Verlauf zu geben. Fast willkürlich, aber vom Subjekt aus bestimmt und Souverän.
Dieser »Deus ex Machina« sollte eine Menschheit sein, die die Prozesse in der Welt, die sie in gang gesetzt hat, unterbrechen und neu bestimmen kann. Der Selbstlauf der Dinge ist das, was am Ende tödlich wird. Den sich ständig beschleunigenden Selbstlauf der Dinge erleben wir derzeit tagtäglich und darin erkennen wir das Abdanken der Politik als Politik in dem Sinne, das Politik die Organisierung eines guten Lebens wäre, während sie heute nichts anderes ist als die Anpassung der Gesellschaften an den falschen Souverän, den globalisierten Markt.
Beides, das Heraustreiben aus der Höhle und das Ändern der Spielregeln und damit die Herrschaft der Menschheit über den Ort und die Zeit – denn das Ändern der Spielregeln ist auch die Änderung einer bisher gültigen Zeit – sind Attribute einer wirklichen Revolution, die sich mit allem was der Mensch hat, gegen jene falsche Welt stellt, in der er nichts anderes ist als das Objekt niederträchtiger Verhältnisse.
Mir ist es inzwischen völlig egal, ob man einzelne Aktionen der bewaffneten Gruppen herausgreift, um sich an ihnen moralisch zu bereichern. Ich finde es auch witzig, wenn der Leipziger Kreisverband der Falken – oder war es Annegret Kramp-Karrenbauer? - erklärt: »Der bewaffnete Kampf der RAF ist für uns kein Weg zum Sozialismus«. Darauf möchte ich antworten: »Da Ihr nicht mal wisst, was Sozialismus ist oder wenigstens sein könnte, könnt Ihr über den Weg doch gar nichts sagen«. Mag sein, ich sprach schon davon, das manches falsch und manche Niederlage auch verdient war. Aber das Zentrale an den bewaffneten Gruppen war, dass sie von einer anderen Welt wussten, dass sie sinnlich von deren Existenz erfasst waren und dass sie wussten, dass der Kampf um das ganze Leben geht. Nur das alleine gab die Kraft, alles durchzustehen und bei allen Sanktionen und aller Gewalt des Systems nichts im Leben zu vermissen. Der Kampf um Interessen ist im Grunde immer reaktionär. Das sieht man nicht nur an den Bewusstseinszuständen einer Arbeiterklasse, die den historischen Begriff von sich selbst verloren hat und der Teilhabe an der Kuchenverteilung hinterherjagt. Jeder Kampf, der nicht das Leben aller berührt, wird emanzipatorisch unfruchtbar bleiben.
Agamben sprach vor einigen Jahren von einem Zustand der Geschäftslosigkeit, zu dem wir uns hinbewegen, den wir herstellen müssen. Geschäftslosigkeit meint nicht die Untätigkeit, sondern Geschäftslosigkeit meint die Verweigerung, Handlungen auszuüben, die im Rahmen des Systems sind. Andrew Culp spricht in seiner Arbeit über Deleuze davon (Dark Deleuze, LAIKA-Verlag), dass wir erst dann revolutionär Handeln, wenn wir in unseren Handlungen nichts mehr reproduzieren, was zu dem System gehört, dass wir stürzen wollen. Beides spricht vom herzustellenden Stillstand gegenüber einer rasend rotierenden kapitalistischen Megamaschine.
Beides spricht davon, dass es ein »Außen« gibt, ein »Anderes«. Was immer sie auch falsch gemacht ist, so ist dieses »Außen« und dieses »Andere« das, was die bewaffneten Gruppen aufgeworfen haben, der Bruch mit dem Bestehenden, die Entscheidung, nicht innerhalb der herrschenden Logik eine Lösung zu suchen, sondern außerhalb und gegen sie. Es war das notwendige Aufwerfen der Souveränitätsfrage. Ich halte das für einen Verdienst. Und weil dieses Problem für alle, die grundsätzlich am falschen Leben etwas ändern wollen, die dieses demütigende Leben zwischen Produktions- und Konsummonade nicht hinnehmen wollen, heute weiter existiert, kann heute offensichtlich immer noch nicht über die RAF oder die bewaffneten Gruppe aus ihren Intentionen heraus diskutiert werden, sondern hier soll das Tabu stehen und die dumme Distanzierung. Es ist das Tabu der Höhle als unausweichlichem Ort und das der Unveränderbarkeit der Regeln, die heute das Leben unterworfen haben.
Hamburg 31.05.2019
Karl-Heinz Dellwo