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G-20-Gipfel: Zum Riot im Schanzenviertel vom 7. zum 8. und 9. Juli 2017

G-20-Gipfel: Zum Riot im Schanzenviertel am 7./8. und 9. Juli 2017

Inzwischen sind die Bilder um die Welt gegangen: Im neuen europäischen Zentralstaat  Deutschland, ökonomisch stabil wie kein anderes Land der westlichen Hemisphäre, brach im Rahmen des großen Protestes gegen den G 20 Gipfel ein Riot in einer Dimension aus, die man bisher hier nicht kannte und nur in anderen Ländern vermutete mit größeren Problemen an Armut und der Migration. Im Hamburger Schanzenviertel brannte es. Geschäfte und eine Bank wurden zerstört und geplündert. Auf der zentralen Straße des Viertels wurden im Beisein von Tausenden von Menschen riesige Feuer entfacht und mit Gegenständen aus den Plünderungen genährt. Während die einen ihrer Zerstörungslust freien Lauf ließen, wurden sie von den anderen angefeuert, zumindest in deutlicher Erregungslust gierig in ihrem Handeln verfolgt. Während die Einen vermummt ihre Identifizierung zu verhindern trachteten, fotografierten die anderen die brennenden Barrikaden, die zerstörten Fensterscheiben und Türen, die agierenden Schwarzvermummten und sich selber. Die besonders Dummen brachten sich so in Pose, dass es zur Fahndungshatz für die Bild-Zeitung ausreichen wird. Andere brachten Beutegut nach Hause. Wiederum andere saßen in Nebenstraßen, nicht weit entfernt von dort wo es brannte und knallte, in geöffneten Kneipen und tranken oder aßen etwas. Fremde wurden angesprochen und ihnen geplünderte Lebensmittel und Getränken angeboten. Während das Spektakel weiter ging, picknickten einige der Akteure miteinander, offenkundig ermattet und ermüdet. Niemand schien Angst vor den Anderen zu haben. Niemand, jedenfalls niemand  der angesprochenen Akteure, dachte an die mögliche Angst derer, die noch in den Wohnungen waren. Ausländische Freunde der Revolte sprachen schwärmerisch von der »großen Commune«, die sich hier für ein paar Stunden gebildet hätte. Auf die drei Brandtoten während des Riots in Athen im Mai 2010 hingewiesen, erwiderten sie selbstsicher, das werde hier nicht passieren, um später, als andere den Berichten nach versuchten, gezielt Läden anzuzünden, ungeachtet dessen, dass über diesen Läden in Wohnungen Menschen leben, zu erklären: »Das ist nicht mehr unser Ding. Wir gehen jetzt«.

Schon den ganzen Tag über gab es Attacken von kleinen Gruppen, die in verschiedenen Stadtteilen Schaufensterscheiben einhauten oder Autos anzündeten. Andere versuchten Straßen zu blockieren, manchmal in einem bizarren Missverhältnis: Am Jungfernstieg setzten sich Mitglieder einer kleinen feministischen Gruppe auf die Straße um mögliche Konvois von G-20-Delegationen zu blockieren. Es waren vielleicht 6 oder 7 junge Frauen. Als Antwort darauf rückte die Staatsmacht mit zwei ihrer High-Tech-Wasserwerfer vor, begleitet von einem Radpanzer und von einer Hundertschaft. In einer Sprache, die im Duktus und in der monotonen Stimme dem Film 1984 von Michael Redford hätte entnommen sein können, wurde den Demonstrantinnen der Einsatz dieser Machtmittel angekündigt und gefordert:»Räumen Sie die Straße«, »Folgen Sie den Anweisungen der Polizei«. Als die Hundertschaft ihre Helme aufsetzte, verließen die Frauen ihre kleine Sitzblockade. Darauf fuhren Radpanzer und Wasserwerfer wie von unterirdischen Induktionsschleifen gesteuert in ihre Ausgangsstellungen zurück. Die Straße und die Stadt als Staatsterrain, nicht mehr als öffentlicher Raum, die Enteignung des Öffentlichen durch den Staat scheint fast total.

 

Dieses gleiche Verschieben von Wasserwerfern und Einsatzgruppen, wie von unsichtbarer Hand geleitet, war den ganzen Nachmittag um das Schanzenviertel herum zu beobachten. Alleine im Bereich Stresemannstraße und Neuer Pferdemarkt wurden mindestens 8 Wasserwerfer hin und her geschoben. 42 sollen insgesamt in Hamburg positioniert gewesen sein. Manchmal drangen sie über das Schulterblatt oder über die Lerchenstraße in das Schanzenviertel ein, dann zogen sie sich wieder zurück. Über allem schwebten die Polizeihubschrauber. Parallel zu den in geschlossener Formation sich bewegenden Polizeieinheiten agierten die Unmengen von Zuschauern, zwar oft in Gruppen, jedoch nicht formiert, völlig zwanglos, ständig auf der Suche nach dem besten Zuschauer-, d.h. auch Konsumentenplatz. Mehrere Stunden lang konnte man Polizeibewegungen sehen, die das Einkreisen des Schanzenviertel organisierten und dessen Besetzung vorzubereiten schienen. Aus dem Inneren des Viertels heraus kamen immer wieder Stein- und Flaschenwürfe und irgendwelche Leuchtraketen in Richtung der Polizei. Dort hatte man irgendwann offenkundig entschieden, das Viertel sich selbst zu überlassen.

 

Im Inneren des Viertels folgte der Riot seiner ihm eigenen Dynamik. Das Zurückdrängen der Staatsmacht auf äußere Grenzen bedeutete dort ihre Aufhebung und das Herstellen eines anarchistischen gesellschaftlichen Raums, in dem jeder seine eigenen Regeln zu setzen schien. Am  Ende wurden die Handlungen von denen geprägt, die die meiste Wut, den meisten Mut oder manchmal auch nur die größte Blödheit auf ihrer Seite hatten. Gleichwohl kann man diesen hergestellten anarchistischen Frei-Raum nicht als »rechtsfrei« bezeichnen. Gegenüber der herrschenden Gesellschaftsordnung ist er im Bruch mit dem Eigentum und dem Zwang des Selbstverkaufs irregulär, aber auch diese Verhältnisse überschreitend. Als instabile Selbstordnung enthält die Situation die Tendenz der Entgrenzung. Aber die Akteure, völlig unerfahren und deswegen auch unfähig, gegengesellschaftliche Strukturen in Realität zu setzen, agierten untereinander doch auf der Suche nach einem Konsensprinzip. Schon mittags, als ein junger Randalierer mit dem Metallpfosten eines Straßenschildes den Vodafone-Laden aufbrechen wollte und von einer wütenden Einwohnerin zur Rede gestellt wurde, legte er langsam, als wolle er keinen Krach mehr machen, die Metallstange auf den Boden, trottete von dannen und zog dabei die Maske vom Gesicht. Der Riot ist das Besetzen eines Vakuums. Dieses Vakuum ist aber nur vordergründig das Resultat des Fehlens der Polizeigewalt bzw. der Staatsmacht; an erster Stelle ist er Ausdruck des Fehlens einer gesellschaftlichen Übereinkunft oder Ausdruck des Bruchs einer gesellschaftlichen Übereinkunft, der schon lange vorher statt gefunden hat und im Augenblick der fehlenden oder der zurückgeschlagenen Staatsmacht als Realhandlung sichtbar wird.

 

Die im großen Feuer vor Budnikowski und Rewe explodierenden Dosen mit Haarspray und anderen unter Gasdruck stehenden und feuerfähigen Konsumgütern entsprachen den explodierenden und wie irre tanzenden Subjekten. Für sie war das Plündern der Surplus im plötzlich eingetretenen Ausnahmezustand der für Stunden untergegangenen Kontrollgesellschaft. Das Auftauchen einer verlorenen Freiheit, von der alle wussten, dass diese Situation nur kurzfristig sein konnte, musste exzessiv genossen werden.

 

Es gibt keine »guten« oder »bösen« oder »schlechten« Riots. Er ist die Summe von allen. Und vor allem: Der Riot ist das Resultat einer gewaltsam hergestellten eindimensionalen Welt. Mit der Globalisierung des Kapitalismus, mit der Besetzung des ganzen Lebens durch die Warengesellschaft ist scheinbar der Gegensatz aus der Welt verschwunden. Die Gesamtmacht des Systems, die Kombination aus »freiem Markt« als einziger Lebensgrundlage, auf der Menschen sich untereinander austauschen müssen und einer Macht- und Kontrolltechnologie in den Händen von Staaten und Konzernen, scheint so total zu sein wie ein schwarzes Loch, das alles aufsaugt und vernichtet. In dieser auf den Tod des Subjekts gegründeten Totalität sind die bisherigen Formen des Widerstands aufgelaufen und haben sich selber als funktionslos zersetzt. Im Sieg über seine historisch aufgetretene Gegenwelt aus Staats- oder Realsozialismus hat der Kapitalismus sich selber seines letzten Sinns, den der Konkurrenz mit einer anderen Form des gesellschaftlichen Wirtschaftens, beraubt und eine Welt etabliert, die sinnentleert in der Warenproduktion kreist,  die Unmengen an Gütern produziert, die niemand wirklich braucht, während umgekehrt die Dinge, die Milliarden Menschen dringend für ihr Überleben, für Bildung oder den Aufbau sozialer Strukturen notwendig bräuchten, um frei untereinander ihr Leben regeln zu können, von diesem System nicht zur Verfügung gestellt oder blockiert werden. Angesichts der verlorenen, weil wirkungslosen Formen des alten Protestes wie Streik oder Demonstrationen, ist der Riot derzeit offenkundig die Form, die noch erschüttert und registriert wird, in der die Eigentumsordnung wenigstens gebrochen ist. Für die alten Formen des Protestes gibt es nur noch den lapidaren Verweis auf die »Sachzwänge« des Systems und die Behauptung, dass der »freie Markt« alles bestens regeln wird. Der Riot ist die militant-ohnmächtige Wut gegen einen Zustand der totalen Dominanz der Welt durch Enteignung des Lebens und der instrumentellen Unterwerfung der Natur unter die Verwertungsmaschine des Kapitals.

 

Ist der Riot auch das, womit man sich nicht identifizieren kann, so ist es doch falsch, sich von ihm zu distanzieren. Denn er enthält etwas, was über ihn hinaus geht und zu verteidigen ist. Diejenigen, die heute glauben, die Distanzierung erzwingen zu können, spielen falsch. Der Riot ist in seiner anarchistischen Eruption zum einen sicher Abbild der anderen Seite der Medaille, die als »freier, sich selbst regulierender Markt« hochgehalten wird und jene barbarische Welt produziert hat, in der wir heute leben, auch wenn das in den nördlichen Metropolen der Welt, die den größten Anteil an Ausbeutung von Menschen und Natur in sich hineinsaugen, noch mit hierarchisiertem Luxus verpackt wird. Gleichzeitig ist er aber auch eine Überschreitung verlogener Wertnormen und enthält ein Übertrittspotential, aus dem es möglich wird, die Verhältnisse wieder von außen zu betrachten und damit ihnen gegenüber wieder ein Minimum an Souveränität zu gewinnen. Denn das gehört zur Vernichtung des Prozesses der Emanzipation des Menschen aus dem Zustand ohnmächtiger Geworfenheit in die Welt: dass mit der weltweiten Durchsetzung des Marktkapitalismus die alten Souveränitäten, erst die des überkommenen Nationalstaates, nun die des untergehenden amerikanischen Imperiums, auf das Nicht-Subjekt des globalen freien Marktes übergehen, der zum naturgesetzlichen Zustand wird und deswegen kein Außen als Existenzgrundlage mehr akzeptiert und uns totaler unterwirft als alles je zuvor. Im Riot scheint der Antagonismus auf: zwischen der aufgezwungenen Pflicht, konsumierendes Objekt und damit integrierter Idiot der Verhältnisse zu sein, dessen Inneres durch die reale tagtägliche Reproduktion des Lebens als Ware strukturiert wird, und dem für einen Moment konkrete Gestalt annehmenden freien Menschen gegen eine privatisierte Welt, in der wenige Familien alles und Milliarden von Menschen wenig mehr besitzen als ihr nacktes Leben. Deshalb ist es eigentlich gut, dass endlich etwas passiert, denn der Zustand des fortdauernden Nicht-Passierens bei denen, die diesen Verhältnissen besonders unterworfen sind, ist jener, der ständig tötet.

 

Zu den ekelhaftesten Erscheinungen während des ganzen G-20-Gipfels gehören weniger die Gewaltbilder aus dem Schanzenviertel, wohl aber jene, wo das Verbrechen und die menschliche Niedertracht  aus - pars pro toto -  saudi-arabischen Handabschneidern und Menschensteinigern und dem »Wenn-du-reich-bist-kannst-du-ungefragt-an-jede-Muschi-fassen«-Trump mit der europäischen Polit-Elite unter gegenseitigen Respekterklärungen zusammensitzt,  um Beethovens 9.Sinfonie zu hören, die Ode an die Freude, während draußen der Polizeistaat rotiert und das Stimmvieh des Systems zur Ordnung geprügelt werden soll. Beim großen Dinner nach dieser »Ode an die Freude« fehlte nur noch die Luke in der Wand wie in jener Benediktinerabtei aus Umberto Eccos Im Namen der Rose, durch die, symbolträchtig für die Armen und Hungernden in dieser Welt, das nicht verfressene Essen einer fetten, aber ausgehöhlten Bourgeoisie, auf die Müllkippe nach außen gekippt wird. Das hätte symbolträchtig jene win-win-Situation hergestellt, die Merkel gegenüber den NGOs im Gespräch vor diesem Niedertrachtsgipfel in Abwehr einer realen Veränderung der Welt in Stellung brachte. Da klagen die, die immer alles eingesaugt haben,  die win-win-Situation für sich ein, die nichts anderes ist als die Fortschreibung dessen, dass sie den Großteil der Menschheit und der Natur für sich ausplündern.

 

Wir sollten uns nicht distanzieren, auf gar keinen Fall! Nicht weil wir das für gut finden, was im Schanzenviertel abgelaufen ist, sondern weil der Schrei nach Distanzierung auf einer verlogenen Grundlage steht, wozu hier nur an die täglich im Mittelmeer ertrinkenden Flüchtlinge zu erinnern ist, gegen die inzwischen - mit deutschem Geld und von Sigmar Gabriel gefördert - lybische Warlords finanziert werden, damit sie die Flüchtenden in Lagern einkerkern,  die exakt den unmenschlichen Käfigen der alten Sklavenhändler entsprechen. Dann ist mir die Parole im Schulterblatt: »Wir klauen uns unser gestohlenes Leben zurück« lieber. Diese Welt wollen wir nicht. Von ihr müssen wir uns distanzieren. Dass die, die dagegen rebellieren oftmals so roh und mach mal dann auch dumm und brutal sind, ist ebenso kein Grund für eine Distanzierung. Das politisch-emanzipierte Subjekt existiert mit der Durchsetzung der Konsummonade als die gesellschaftliche Existenzform kaum, allenfalls völlig verschüttet, isoliert und ohne Geschichte. Das Falsche im Aufbruch gehört dazu, wenn wir etwas ändern wollen, wenn wir wieder einen Begriff von Kommunismus, vom anderen Leben, von kollektiver Subjektivität und einem vom Menschen ausgehenden Lebenssinn entwickeln wollen. Das Leben als Ganzes im System ist falsch und darin nicht zu retten. Von da müssen wir aufbrechen.

 

10.07.2017

Karl-Heinz Dellwo