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Podium 100 Jahre Rote Hilfe in Berlin, 24.08.2024

Podiumsdiskussion – Haftbedingungen und Überleben in deutschen Gefängnissen. 100 Jahre Rote Hilfe

Berlin, Rio-Reiser-Platz, 24. August, 16:30 - 17:30 h

Auf dem Podium:

Christine Graebsch, Karl-Heinz Dellwo, Ulrich Lewe und Manuel Matzke.

Foto: Heinz Herlitz

Notizen zur Diskussion von Karl-Heinz Dellwo:

Sind die Haftbedingungen schädigend? Oder bestimmte Haftbedingungen? Ich scheue mich, mich dieser Frage leichtfertig zu nähern oder eine schnelle Antwort zu geben. Ist es schädigend, am Fließband zu arbeiten? Ist es schädigend, der Bundeswehrdisziplin unterworfen zu werden, dem System von Befehl und Gehorsam? Ist es schädigend, in einer 30 qm-Wohnung zu leben, arbeitslos, ausgesondert, vielleicht sogar mit Krankheit geschlagen –
Diese Beispiele ließen sich vervielfachen.

Ja, das ist alles schädigend.

Als wir nach vielen, vielen Jahren Kontakt mit Gefangenen im Normalvollzug hatten – Normalvollzug in einer C-Anstalt, also wo es schon nur noch ums Wegsperren ging, hörte ich einen Gefangenen, der von einer Transportreise zurückgekommen war, wie er mit Erstaunen und als wäre er in einer anderen Welt gewesen, von jenem Gefängnis, in das er aus irgendeinem Grund hin transportiert war, berichtete: »Da gibt es 2 x die Woche Apfelsinen!«

Sie sehen, es hat mich sehr beeindruckt, denn die Geschichte ist vielleicht etwa 32 Jahre her und ich habe sie immer noch im Kopf. Hat er so die Vorstellung eines Lebens ohne Gefängnis verloren, dass ihm diese Sache so unendlich bedeutsam vorkam?

Ja, egal wo: Wo die Struktur den Menschen klein machen und anpassen will, wirkt sie schädigend.

Wenn wir über Schädigung sprechen, müssen wir über Absichten sprechen. Das Gefängnis ist eine Disziplinierungsanstalt. Die Fabrik war das genauso. Es hatte Arbeitshäuser gebraucht, Erziehungsanstalten und eben Gefängnisse, um den Freien Gesell in die Zwangsstruktur der entstehenden Manufakturen zu bringen.

Wir können also nicht so tun, als ob es schädigende Strukturen gibt im Gefängnis, ohne über den Sinn des Gefängnisses, seine Aufgabe in seinem jeweiligen politisch-ökonomischen gesellschaftlichen Kontext nachzudenken. Sonst sind wir naiv oder empfehlen: 2 x die Woche Apfelsinen.

Wenn wir vom Gefängnis reden, sprechen wir von einer Diktatur. Das Gefängnis ist nichts anderes als eine Diktatur. Ist eine Diktatur reformierbar? Gibt es, wie bei der Sozialdemokratie, die sich nicht zu blöde war und ist, sich unterm Strich immer wieder als »kleineres« Übel darzustellen, auch eine Diktaturform, die als »kleineres Übel« auftritt?

Sehen Sie es mir nach: Weder vom Alter her noch von meinen Erfahrungen mit immerhin 21 Jahren Gefängnis bin ich noch sehr interessiert, außerhalb des Grundsätzlichen zu denken.

Ja, das Gefängnis ist schädigend. Ob mit oder ohne Apfelsinen. Wenn wir von Diktatur sprechen, geht es um die Frage des Überlebens. Also vor dem Gejammer über schädigende Haftbedingungen geht es um die Frage der Befähigung zum Überleben. Mir selber ist es lieber, die Diktatur als Diktatur zu erkennen, denn in ihrer wattierten Form zu stecken. Und das halte ich auch für die notwendige Verantwortung: Du bist jetzt, aus welchen Gründen auch immer in dieser Diktatur gelandet, oft aus Gründen, die aus sozialen oder aus politischen Gründen auch von den Gefangenen selber nicht als gültige Norm akzeptiert werden (deswegen wären die Gefangenen selber oft die schlimmeren Gefängniswärter). Du hast Dich also selber nicht verantwortet. Sonst wärst Du nicht hier oder aus Gründen, die Dir aus einem Bewusstsein entstanden sind, in dem Du Dich als Mensch gegen die Unzumutbarkeiten einer Existenz der Funktion für andere oder für Geldproduktion gewehrt oder gestellt hast.

Ändern wir also die Haftbedingungen und tun so, als ob die Diktatur reformierbar wäre oder versuchen wir, den Menschen zu befähigen, ein selbst und ein eigenes Ich zu entwickeln?

Ich glaube, dass wir allen Gefangenen sagen müssen: Du bist im Gefängnis, Du bist in einer Diktatur. Fang hier das an, was Du außerhalb des Gefängnisses schon hättest tun sollen: Dich Dir gegenüber zu verantworten.

Es geht immer darum, von welcher Grundlage wir aus sprechen. Von der der Diktatur oder von unserer eigenen. Aber die müssen wir entwickeln: politisch, moralisch, kulturell, auch, wenn es tiefer geht, in einem ökonomischen Kontext.

Es gibt keine Freiheit: Hier drinnen, da draußen. Es gibt nur eine Freiheit gegenüber Verhältnissen, in denen den Menschen strukturell das Wichtigste genommen wird, was ihnen gehört und was ein menschenwürdiges Leben kennzeichnet: ein Subjekt zu sein, natürlich ein soziales Subjekt, was heute nichts anderes bedeutet als um Strukturen zu kämpfen, aus denen dieses Ziel für den Menschen allgemein und grundsätzlich gefördert wird.

Wir haben um Zusammenlegung gekämpft, nicht weil wir eine Idylle im Gefängnis haben wollten. Auch die Zusammenlegung hätte dem Gefängnis nicht die Funktion des Gefängnisses genommen. Es ging um uns, um das, was wir in diesem Kampf erleben, aufbauen, untereinander herstellen bzw. herstellen wollten.

Manche kommen ins Gefängnis, weil sie gekämpft haben oder kämpfen gegen etwas, was sie als menschenfeindlich erleben. Manche kommen ins Gefängnis, weil sie tief vom System angepasst sind und dem mit einer Irregularität entkommen wollten, die aber gleichzeitig die Normen der Anpassung weiter transportierten. Wenn ihr Euch anpasst, muss man ihnen sagen, nützen auch keine Änderungen oder Milderungen der Haftbedingungen etwas. Deswegen bleibe ich dabei: Schädigende Haftbedingungen und schädigende Strukturen? Ja. Aber es gibt nur eine wirkliche Antwort darauf: Dass der Gefangene oder die Gefangene auf sein, auf ihr Selbst besteht. Dann spielt es, wenn man draußen ist, auch keine Rolle mehr, wie das Gefängnis war.

Ich spreche hier nicht über jene Gefangene, die psychisch krank sind. Hier fühle ich mich nicht kompetent, ihnen etwas zu sagen. Hier sage ich nur: Sie gehören nicht ins Gefängnis.