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IST POLITIK HEUTE NOCH MÖGLICH?

Der Artikel enthält eine Analyse der gegenwärtigen Konjunktur und zeigt, wie die derzeitige Kriegstreiberei ein Symptom für den gegenwärtigen, anhaltenden und grundlegenden Mangel an politischen Alternativen ist. Er zeigt, dass die Unfähigkeit des Kapitalismus, die von ihm geschaffenen Probleme zu lösen, zu einem sich selbst vernichtenden Weg führt, aus dem es keine Ausstiegsstrategien gibt – um Platz für neue Organisationsformen zu schaffen, muss die gegenwärtige Art, die Welt zu organisieren und zu zerstören, sterben.

Karl-Heinz Dellwo
Ist Politik heute noch möglich?
 
Abstracts:
Der Artikel enthält eine Analyse der gegenwärtigen Konjunktur und zeigt, wie die derzeitige Kriegstreiberei ein Symptom für den gegenwärtigen, anhaltenden und grundlegenden Mangel an politischen Alternativen ist. Er zeigt, dass die Unfähigkeit des Kapitalismus, die von ihm geschaffenen Probleme zu lösen, zu einem sich selbst vernichtenden Weg führt, aus dem es keine Ausstiegsstrategien gibt - um Platz für neue Organisationsformen zu schaffen, muss die gegenwärtige Art, die Welt zu organisieren und zu zerstören, sterben.
 
Stichworte:
Bellizismus, Grüner Kapitalismus, NATO, Russland-Ukraine-Krieg

Der Artikel wurde geschrieben für das englischsprachige Magazin crisis and critique (https://www.crisiscritique.org/) und erscheint dort Anfang November 2022 in englischer Sprache.
 
 
 
M., deutscher Jude und Kommunist, also der nazistischen Vernichtungsstrategie gleich doppelt ausgesetzt, weigert sich, beim Luftalarm 1945 in Frankfurt vor den Bombern der Alliierten einen Schutzbunker aufzusuchen. Stattdessen betrachtet er die Bombardierung Frankfurts ungeschützt von einem Balkon aus mit einem Glas Sekt in der Hand.[1]
 
»Es gibt keine soziale Gruppe im Kapitalismus, die eine transzendente ontologische Vorbestimmung hätte.«[2]
 
»Zum Beispiel ist aus heutiger Sicht (d.h. nach Marx) das Politische ein notwendiges Abführmittel.«[3]
 
 
Sind wir verloren? Die Frage kann sich leicht aufdrängen, wenn man die rasanten Entwicklungen in der heutigen Welt verfolgt, die inzwischen neben den inneren und äußeren Schranken aus der Verkapitalisierung der Welt auch wieder zum großen kriegerischen Clash drängen. Was haben wir zu sagen oder vielleicht anders: Was hätten wir zu sagen? Eigentlich alles, denn es geht um unser Leben. Um nichts weniger. Eine historische Epoche scheint an ihr Ende gekommen zu sein. Wir erleben das finale Scheitern des 20. Jahrhunderts. Unsere Zeit ist die, in der die Rückwirkungen einer Welt der eskalierten jahrhundertealten Ausbeutung, in der alles der Umwandlung von Natur und Leben unterworfen worden ist, immer härter, unmissverständlicher und unübersehbarer zuschlagen. Aber genau das ist es, was gesellschaftlich fehlt: eine substanzielle Antwort, also das Einnehmen einer Position der anderen Lebensgrundlage. Auf das Grundsätzliche bezogen existiert nur eine Leerstelle. Der Autor dieser Zeilen gehörte in den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts zu denen, die die Systemfrage als reale Machtfrage aufgeworfen haben. Das »Andere« war keine Utopie, sondern etwas, was konkret vorstellbar und vor allem: unverzichtbar war. Es gab ein »Außen« zur kapitalistischen Welt in vielschichtiger Gestalt: die aus der Oktoberrevolution entstandene Sowjetunion, das maoistische China, Kuba, die kämpfenden antikolonialen Bewegungen, ein politisch-kultureller Riss in den Metropolen selbst, aus dem ganz neue Lebensfantasien herausströmten. Mit dem »Außen« gab es auch noch die Kategorie der Politik, die es vertrat. Es scheint lange her. Die Gegensätze wurden eingeebnet oder haben sich zersetzt. Nichts Neues strömt mehr aus der Welt heraus. Alles scheint bekannt und alt.  Die Welt so wie sie ist, scheint alternativlos geworden zu sein. Damit ist auch die Politik verschwunden als Versuch, das Leben der Menschen außerhalb einer festgezurrten und verselbständigten Systemrationalität zu organisieren.
 
System auf Autopilot
 
»Die italienische Finanzpolitik läuft auf Autopilot«[4], erklärte vor Jahren der Technokrat Draghi, der zur allgemeinen Beruhigung nach dem Hochspülen Donald Trumps in das für die Menschheit gefährlichste Amt der Welt eine Sentenz Alan Greenspans wiederholte: Die globalisierte Ökonomie habe sich inzwischen so verselbständigt, dass es nicht mehr von zentraler Bedeutung sei, wer im politischen System des Kapitalismus an der Macht ist. Was zur Beruhigung gedacht war, ist in der Folge nur tückisch: Politik ist das, was zweitrangig geworden ist und vor allem nur noch Täuschung beinhaltet über ihre Gestaltungsmacht. Sie gestaltet nicht, sie verwaltet nur noch an nachgeordneter Stelle die chaotisch werdenden und sich entgrenzenden Triebkräfte einer verselbständigten global ausgerichteten Ökonomie, die sich als »neue Natur«, als »industrielle Ewigkeit« setzt[5]. Oft grenzt das inzwischen an Wahnsinn. Das Führen globaler Kriege wird für manche zur normalen Option. Hier liegt auch der Grund, warum die politisch-sozialen Hauptströme in der westlichen Gesellschaft sich nach rechts bewegen, bis hin zur Etablierung neuer faschistischer Regierungen der alten Art wie der jenes Bündnisses zwischen Fratelli d’Italia, Lega Nord und Forza Italia, welches der Regierung des zurückgetretenen Ministerpräsidenten Draghi nun wahrscheinlich folgen wird, der damals als EZB-Chef die Durchsetzung des Kapitals als »automatisches Subjekt«[6] der Gesellschaft abfeierte. In Nachfolge der technokratischen Akteure gewinnen nun die ideologisch Rechten politische Machtstellungen in den Gesellschaften. Mit ihrem alten Faschismus konkurrieren sie gegenüber dem, was man auch »technokratischen Faschismus« nennen kann, das Umstellen des Menschen mit einem sie alles umschließenden Sachzwang, so dass die äußere Struktur des Menschen zu seiner inneren wird. Pasolini nannte das die »anthropologische Mutation«, die für ihn vernichtender war als der alte Faschismus, da das Subjekt, hier vollständig zum Objekt geworden, seine Unterwerfung nicht mehr erkennt[7]. Die Ideologie der Rechten wirkt, weil sie an Neid und Missgunst ansetzen kann, die im geschlossenen System, d.h. in einem System ohne Erkenntnisberechtigung, zur Stimmungsgrundlage werden und sich nie gegen die Verhältnisse, sondern immer nur gegen den anderen richten. Der Mensch, dem sein Eingeschlossensein zur Lebenswelt geworden ist, braucht trotzdem etwas fürs Gemüt. Das liefert ihm die alte rechte Ideologie und deren medialer Dauerbeschuss gegen die Solidarität. Änderungen innerhalb der verselbständigten ökonomischen Megamaschine können die Rechten nicht herbeiführen; da hat Draghi recht: sie scheitern am »Autopiloten«. Aber sie können Interessen der einen gegen die anderen immer roher ausspielen und das Karussell der Menschenfeindlichkeit auf eine neue, höhere Stufe treiben. Das Geltend machen von »Interessen« ist strukturell immer reaktionär, da es von vorneherein den Bezug auf ein gemeinsames Ganzes als der einzig der Solidarität verpflichteten Position negiert[8]. Das Phänomen zeigt sich in vielen Staaten. Wenn die bestehende Gesellschaft, die als bestehende Welt wahrgenommen wird, alternativlos ist, wenn die Gesetze der kapitalistischen Ökonomie unumstößlich geworden sind, macht es für niemanden mehr Sinn, sich außerhalb dieser neuen Natur zu denken, gar zu stellen zu versuchen. Jedes Agieren, auch wenn es bemüht auf das aus ist, was »sozialer Ausgleich« genannt werden kann, steht auf falscher Grundlage. Das ist das Problem der Linken: Sie agieren innerhalb eines Systems, dessen Selbstlaufpotenz so übermächtig stark ist, dass jeder Versuch der Steuerung sich gleichsetzt mit dem Versuch, den Stapellauf eines Großcontainers mit wenigen Händen zu dirigieren. Das Problem der Linken ist ihre permanente und egoistische Lüge, dass ihr Parlamentarismus irgendetwas grundsätzliches gegen die rasende Maschine des globalen Kapitalismus ermöglichen könnte. Die Lüge wird erkannt. Deswegen wird die gesellschaftliche Bedeutung der Linken zusehends marginal. Je länger sie daran festhalten, desto lächerlicher werden sie dabei. Wir erinnern uns alle noch gut an den Aufstieg und Fall von Alexis Tsipras und dem Linksbündnis SYRIZA in Griechenland, an ihre Zurichtung für ein kapital-konformes Europa. Wer sich das aktuelle trostlose Schauspiel einer politisch bankrotten Linken vergegenwärtigen will, muss sich nur die rasante Entpolitisierung der deutschen Linkspartei anschauen, deren Positionen zur Ukraine und zu Russland inzwischen mehr oder weniger deckungsgleich mit denen der anderen bürgerlichen Parteien sind. Wozu also braucht man diese Linke noch? Die anderen Parteien propagieren weiterhin ihren Unterwerfungsprozess unter den Gott der freien Marktwirtschaft als Ausdruck einer selbstgewählten Überzeugung, der inzwischen aber wieder von der zivilen in die militärische Rüstung als die übliche Arbeitskleidung umsteigt.  Mit welcher Geschwindigkeit ideologische Wohlfühlpositionen einer politischen Kraft sich im Zuge des Übertritts zur Realpolitik auflösen, kann man an den GRÜNEN studieren. Ihre Hinwendung zum Parlamentarismus des bürgerlichen Systems war zu Beginn ihres politischen Aufstiegs noch geprägt von den emanzipatorischen Wellen der 68er-Revolte und dem daraus resultierenden Versprechen, das politisch-ökonomische System den Bedürfnissen der Menschen anzupassen. Die alten Haltungen und Positionen aus der letzten Revolte im System des westlichen Kapitalismus aus den 60er Jahren wurden im Integrationsprozess institutionell schnell abgeschliffen. Der Anspruch, anders zu sein als die bisherigen Altparteien, hat sich längst in das Dekorative verschoben. Jeder »Marsch durch die Institution« endete bis heute mit dem Sieg der Institutionen, die die Übermacht des geschichtlich angewachsenen und inzwischen totalitär gewordenen Realen auf ihrer Seite haben. Aus seiner eigenen Logik ist dieses Reale nicht mehr zu transzendieren ist. Die Unmöglichkeit der Transzendenz aus dem Innern des Systems zwingt am Ende alle, den alten Code von Macht und Gewalt als Bedingung der eigenen politischen Existenz zu übernehmen, die nichts anderes kann als die Fortschreibung der bestehenden Welt.     
 
Was hier offen wird, scheint mehr zu sein als nur die alltägliche Korrumpierung einer politischen Klasse, die, endlich angekommen an systemimmanenten Machtpositionen, nichts anderes macht als Sachzwänge zu exekutieren und das als »Entscheidung« und »Wille« ausgibt. Der neue Bellizismus hat in Deutschland mehr oder weniger die ganze neue politische Mittelklasse ergriffen. Mancher Politiker, der kürzlich noch bemüht war, den »grünen Kapitalismus« zu propagieren, in dem sich alles Bisherige wie von selbst zu Gunsten der Menschheit wandeln wird, bar jeder Antwort auf die Frage, warum es überhaupt diesen katastrophalen Zustand der Welt von heute gibt, mutiert zum Waffenexperten und agiert öffentlich als angestellter Vertreter der Waffenindustrie. Der neue GRÜNE sitzt im Panzer und hat darin die Haut gefunden, in der er sich geborgen fühlt. Die Welt betrachtet aus der Perspektive der Schießscharten und erhoffter militärischer Überlegenheit. Politik ist da ausgeschöpft im Sieg über einen Gegner und dem reaktionären Bedürfnis nach Triumph. Ihnen angeschlossen die Mainstream-Medien, ein Heer von Kriegshetzern, um so widerlicher, als sie aus der sicheren Etappe ihr Mütchen kühlen, indem sie in der Ukraine die anderen zum Kampf aufrufen und im eigenen Land eine Stimmung der Alternativlosigkeit zum Sieg über Russland propagandistisch herstellen. Sie befriedigen sich in der Konsequenz der anderen und zocken mit dem Untergang: Es gibt wenig Verachtenswerteres als dieses feige Kampfgeschrei aus der Etappe.
 
Russenhass
 
In keinem Land scheint der Russenhass so schnell aktivierbar zu sein wie in Deutschland[9], das nun zum fünften Mal daran beteiligt ist, Russland vom Westen her ihrem Europa zu unterwerfen[10]. Zur Kategorie der neuen politischen Mittelschicht, den Kindern der ersten Nachkriegsgeneration, gebärden sich diejenigen, die noch mit der ersten Nazi-Generation direkt verbunden waren. Pars pro toto: Ursula von der Leyen. Sie brauchte keinen einzigen Tag nach Beginn des russischen Krieges in der Ukraine, um neu die alte Nazi-Parole auszugeben, nach der die russische Industrie zu vernichten sei und aus Russland ein Agrarland gemacht werden soll[11].
 
Man hätte diesen – seit langem sich ankündigenden - Krieg auch als Katastrophe ansehen können, um sich zu fragen, worin die eigene Verantwortung liegt, den dahinführenden Prozessen ihren blinden Lauf zu lassen und wieso man nicht in der Lage war, eine Strategie der gemeinsamen Sicherheitsinteressen zu entwickeln. Aber nichts davon – oder allenfalls wenig - ist geschehen oder geschieht. Es gab dieses Haltung als signifikante politische Kraft offenkundig nicht mehr, dafür um so mehr jene der sukzessiven Ausdehnung des eigenen militärisch gesicherten Machtbereiches und der eigenen Gesellschaftskultur, so  man dem liberalen Kapitalismus eine eigenständige Kultur zuzustehen bereit wäre (was man zumindest fraglich stellen muss: Es gäbe sonst nicht die Möglichkeit der offen faschistischen Wendung in den einzelnen Gesellschaften, die heute auch in Europa wieder zu erwarten sind, nachdem sie in den USA schon lange die gesellschaftliche Realität kennzeichnen). Stattdessen bricht ein Umschalten in einen militärischen Angriffsmodos in Minutenschnelle auf, als hätte man darauf gewartet.
 
Krieg als Befreiungsschlag
 
Diese Schnelligkeit, mit der hier altnazistische Parolen aktiviert werden konnten und mit der eine politisch mehr oder weniger unbeleckte neue Politik- und Medienkaste vom Loblied des »grünen Kapitalismus« umsatteln konnte auf Kriegsmodus, verweist auf eine historische Fäulnis des Bisherigen und weckt seltsame Assoziationen zur Vorkriegszeit und zum Ausbruch des 1. Weltkrieges. Als das Ereignis 1914 eintrat, öffneten sich alle bisherigen gesellschaftlichen Schranken und ebneten scheinbar alle Unterschiede ein: Bis auf eine marginale Minderheit wollte sich damals jeder am Krieg beteiligen. Es war offensichtlich etwas ans Ende gekommen, und da niemand das Ende gestalten konnte, übernahm die übergroße Mehrheit der Gesellschaft das Ereignis, als es eintrat: Die Sozialdemokraten liefen zum Kaisertum über (und haben sich von diesem Verrat inhaltlich nie wieder erholt). Der Kaiser kannte bekanntlich keine Parteien mehr, sondern nur noch deutsche Vaterlandsverteidiger. Die Jugend orientierte sich an der national-idealistisch mystifizierten Schlacht in Langemarck im November 1914, eine vom deutschen Heer militärisch dümmlich organisierte Kriegsaktion ohne jede Relation zu den möglichen erreichbaren Zielen, aber mit großen Opfern, einsetzbar wiederum zum Füttern eines verlogenen Patriotismus. Die 20 Jahre vor Beginn des ersten Weltkrieges erinnern an die 20 Jahre vor Beginn des neuen Bellizismus heute. Der imperialistische Kaiserstaat dümpelte vor sich hin, die Gesellschaft war öde, eingemottet und hatte keine aktive Antwort darauf, wie sich die Zukunft gestalten ließe, da eine Änderung der Dreifaltigkeit von Gott, Kaiser und Vaterland hin zu einem sich modernisierenden Kapitalismus keine internen Kräfte fand, die umzusetzen sie gewillt waren. Der Ausbruch des Krieges war das Resultat eines längst eingesetzten und vorangeschrittenen Zerfalls einer alten Periode. Mariupol ist nur geografisch von Langemarck in Belgisch-Flandern entfernt. In der verlogenen Mystifizierung, diesmal nicht durch eine Oberste Heeresleitung, sondern mehr durch eine NATO-affine Journalistenbrigade in der Etappe, liegen die Orte fast deckungsgleich aufeinander, wobei es etwas schwieriger ist, aus den Bandera-Faschisten und den aus verschiedenen Ländern hinzugeströmten Rechtsradikalen und Neo-Faschisten eine politisch-moralisch ansehliche Kampfgruppe zu machen.
 
Den Gürtel enger schnallen und Goebbels »Eintopfsonntag«.
 
Hier zeigt sich vielleicht ein anderer Hintergrund für die offenkundige Kriegsgeilheit eines Teils der neuen politischen und medialen Kaste: Sie sind allem überdrüssig. Sie sehnen sich danach, von der Unmöglichkeit erlöst zu werden, das systemimmanent Nichtänderbare als unter ihrer Kontrolle stehend darzustellen und ins Glückliche wandeln zu können. Die neue Liebe zum Bellizismus und zum Traum vom militärischen Sieg gegen konkurrierende Systeme enthüllt ebenso: Es gibt keine Lösung für ihr postuliertes Projekt des plötzlich vom Menschen und nicht mehr vom abstrakten Wert ausgehenden Kapitalismus. Sie wissen es längst: sie werden alle ihre Versprechungen in den Sand setzen und wie in der Vergangenheit jede soziale, ökologische und politische Position räumen, die politisch oder ökonomisch den Gesetzen der Marklogik widerspräche. Längst ist schon wieder alles möglich, was gestern für immer verworfen worden war: Atomkraft, Weiternutzung der fossilen Energien Kohle, Öl bis hin zum Gasfracking. Zentralverwaltung der Energiewirtschaft als Teil einer neuen Kriegswirtschaft und statt Winterhilfswerk für die Wehrmacht: »Frieren für den Sieg!«[12]. Der Verzicht wird von oben propagiert. In der nun hochgehaltenen Moral einer neu einzunehmenden Entbehrungsbereitschaft tauchen seltsam zutreffende Analogien auf wie die zum »Eintopfsonntag«[13], zu welchem die nationalsozialistische Führung ab Oktober 1933 die Bevölkerung anhielt. Diese neue von oben propagierte gesellschaftliche Pflicht, verbunden mit dem Verlangen, jeweils 50 Pfennige zu spenden für das Winterhilfswerk, war als gemeinschaftsbildende Aktion gegen den Feind gedacht, die im 2. Weltkrieg dann nochmals religiös aufgeladen wurden, indem der »Eintopfsonntag« zum »Opfersonntag« umdefiniert wurde.
 
Die Politik hat sich schon längst in zwei völlig voneinander getrennte Sphären geteilt: Es gibt die Politik des an-die-Macht-kommens und es gibt die Politik vom Standpunkt der Macht aus. Beide haben am Ende nur wenig miteinander zu tun. Vor allem aber: Keine besitzt Souveränität gegenüber der Ökonomie und existiert als solche nur noch als äußeres Abbild ihrer selbst. Ihre Aufgabe scheint, im Sinne von Roland Barthes, das Leben abzuführen und der Herrschaft der Verwertung alle Macht zu übertragen.
 
Klimawandel und »grüner Kapitalismus«.
 
Seit den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts weiß die Welt, dass das fortwährende ökonomische Wachstum zu Klimaveränderungen mit katastrophalen Folgen für die Menschheit führen wird und dass die industrialisierten, auf hohen Konsum ausgerichteten Gesellschaften, wie sie in den westlichen Staaten seit über 1 ½ Jahrhunderten das Leben der Menschen prägen, nicht übertragbar sind auf den Rest der Welt, ohne enorme Lebenszerstörungen nach sich zu ziehen. Gesagt wurde viel, getan wurde wenig. Der vernichtende Bezug des Kapitalismus gegen die Natur führt zu Rückwirkungen, die inzwischen den Charakter des Ereignisses haben, also losgelöst und eigenständig gegenüber den normalen Prozessen in den Gesellschaften sind. Die Schranken, die nun dem System und seinen Gesellschaften gesetzt werden, ereignen sich als von außen kommend, als wären es Folgen nicht-beherrschbarer Naturkatastrophen. Sie sind nicht Produkt einer inneren Gestaltung, sondern unkontrollierte und verselbständigte Folgen, die alle betreffen und alle einem Paradigma unterwerfen, das sie zwingt, ihr bisheriges Leben zu ändern. Die Pandemie der letzten zwei Jahre war ein solches Ereignis. Nichts spricht dafür, dass sich diese Ereignisse nicht weiter häufen werden. Das kann man auch mit Hoffnung besetzen, allerdings ändert das nichts an der erstmals negativen Erfahrung[14]. Es sind aber nicht nur die Rückwirkungen aus der Naturzerstörung, die dem weltweiten kapitalistischen System sabotageähnlich Eisenstangen ins Räderwerk werfen. Auch die Gesetze innerhalb der Ökonomie verweisen immer offenkundiger auf ihre inneren Schranken. Schon seit Jahren zeichnet sich ab, dass das Kapital, das neues Kapital zu produzieren gezwungen ist in Gänze nicht mehr weiß, wo es sich im produktiven Sektor weiter vermehren kann und deswegen notgedrungen das überschüssige Kapital in Spekulationsmodelle einsetzt. Auch Kriege, Missernten, Hungersnöte und Naturkatastrophen lassen sich finanzialisieren – und sei es nur durch Währungsspekulation. Die Spekulationsdelle 2001 im IT-Bereich war Ausdruck davon. Noch mehr aber die toxischen Finanzprodukte, die 2008 zum Börsencrash führten. Kapitalismus ohne Wachstum ist wie die Schwerkraft ohne Anziehung. Zur Lüge des »grünen Kapitalismus« gehört der nicht auflösbare Widerspruch zwischen der Entwicklung der Microelektronik und der mit ihr verbundenen Roboterisierung der Arbeitsprozesse mit der Folge eines zunehmenden Ausstoßes der Menschen aus diesem Arbeitsprozess, die dann in Zukunft entgarantiert selbst sehen müssen, wie sie zurechtkommen. Diese Prozesse finden global statt. Die Unmöglichkeit des »grünen Kapitalismus« spiegelt sich vor der Haustür Europas in den 10tausenden von ertrunkenen Flüchtlingen wieder, die sich geweigert haben – so wie Massen weiterer Menschen sich weigern werden -, sich dem Schicksal der Surplusbevölkerung hinzugeben, jenes immer größer werdenden Teils der Menschheit, der für die verselbständigte Ökonomie des Kapitalismus nutzlos ist, weder als Arbeitskraft benötigt wird, da maschinelle Arbeit diese besser setzt, noch als Konsumenten gebraucht wird, da ihnen die Mittel fehlen, um am Konsum teilzuhaben.
 
Der Kapitalismus war nie ein soziales Projekt, jedoch verhieß er zu Anfang, dass alle von ihm profitieren und nach und nach die Lebensbedingungen der Menschheit verbessert werden. Dies ist längst Schnee von gestern. Die neue Realität ist gekennzeichnet von Ausbeutung und Ausschluss. Ausschluss ist das Gebot der Stunde. Dazu hat man an den eigenen Grenzen FRONTEX und PUSHBACKS, in weiteren Regionen die neuen Lager der Welt. Mit steigernder Produktivität wird der Kuchen, den es zu verteilen gilt, immer kleiner. Dieses Paradox erklärt sich aus dem globalen Senken des Einsatzes lebendiger Arbeitskraft und der Steigerung des konstanten Kapitals im Produktionsprozess.
 
Der Niedergang des Westens
 
Die Unfähigkeit des Kapitalismus, noch irgendein größeres soziales Problem in der Welt zu lösen, ist seit langer Zeit unübersehbar. Die politisch-militärische Kaste kann auch keine politische Ordnung mehr durchsetzen. Das konnte sie mit hohem Blutzoll bei den anderen noch leicht in den sechziger und siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts, scheiterte dann aber erstmals eindeutig in Vietnam und führte zu veränderten Militär- und Machtstrategien. Diese Schranke des Übertragens der eigenen politischen Ziele auf andere Kulturen mittels Machteinsatz zeigte sich zuletzt im Scheitern des 20jährigen Nato-Krieges in Afghanistan, einem Krieg, der viele Jahre nicht »Krieg« genannt werden durfte, ähnlich der Sprachregelung des russischen Krieges in der Ukraine.  Das Modell »grüner Kapitalismus« basiert auf einer vom Westen ausgehenden Neuordnung der Welt, die politisch dem Muster des Leopardenfells folgen sollte: Die schwarzen Punkte auf diesem Feld sind die Zentren in der Welt, in denen der bisherige Wohlstand più o meno verteidigt und aufrechterhalten werden soll, während der Rest des Fells die Zonen ökologischer und ökonomischer Zerstörung darstellt, in denen es keine humane Lösung mehr geben wird. Das hat auch eine militärische Komponente: das hochtechnisierte westliche System schickt aus seinen gesicherten Zentren weitgehend gefahrlos Drohnen in den gelben Bereich, um im Namen einer absolut verlogenen Moral und einer rechtlichen Selbstlegitimation Feinde zu töten oder die, die man also solche verdächtigt hat, mit Tausenden von Kollateralschäden und steigert den Hass und die Hoffnung auf seinen Untergang fast schon exponentiell bei Millionen von Menschen, die möglicherweise Angst vor dem Westen haben, aber nie wieder seine Freunde werden[15]. Über die Folgen dieser Zerstörung der Welt als lebensfreundliches Terrain, braucht man sich keine Illusionen zu machen: Die Zukunft wird bestimmt sein von Abermillionen Flüchtenden, die 50 Grad Hitze und mehr nicht überleben können, deren Regionen verbrannt, vertrocknet oder überflutet sind und die, nachdem sie jede Lebensgrundlage verloren haben, gezwungen sein werden, mit aller Gewalt in Regionen zu flüchten und sich dort ihren Platz zu erkämpfen, in denen sie für sich eine Überlebenschance sehen. Gegen diesen Prozess, der mit Sicherheit keiner nach links ausgerichteten Orientierung folgen wird, sondern der des nackten Überlebens mit allen Formen seiner rohen und verrohten Äußerungen, haben die westlichen Staaten wie in Afghanistan erfolglos versucht, korrupte Stellvertreterregime zu etablieren, die ihre Interessen exekutieren, die ihnen die Massen vom Halse halten und ihren grünkapitalistischen Wohlstandszonen in den alten Zentren der Welt einen weiteren Aufschub vor dem historisch unabwendbaren Zerfall verheißen sollten.
 
Rasant ist die Beschleunigung der Zerstörung der vorgeblich zivilen Ausrichtung des europäischen Systems. Die Reaktion auf den russischen Angriffskrieg[16] in der Ukraine ist nicht allein über das Entsetzen erklärt, dass die Kriege, die der Westen, in der Regel unter der Führung der USA, in die Welt getragen hat, auch auf sein eigenes Terrain zurückkehren. Zum ersten Mal, so hieß es in verschiedenen Reaktionen, sei es nicht der Westen, der zu seiner Interessensdurchsetzung militärisch irgendwo in der Welt angreift, sondern zum ersten Mal seit Jahrzehnten sei er mit einem Angriffskrieg unmittelbar im eigenen Machtbereich konfrontiert. Das Wenden der innerimperialistischen Konkurrenzkämpfe zwischen den – derzeitigen – drei Großmächten hin zu militaristischen Auseinandersetzungen verweist auf ein neu aufgekommenes Endzeitbewusstsein, das wiederrum das Bewusstwerden über den längst eingetretenen Zerfall der eigenen Stellung in der Welt aufzeigt. Wenn Nancy Pelosy ihre Reise nach Taiwan zum Kampf zwischen »Autokratie und Demokratie« politisch hochjubelt, dann lässt sich erkennen, dass die Weichen gestellt sind zu einer finalen Konfrontation, mit der der Westen seinen Niedergang aufhalten möchte, der 2001 mit der Zerstörung seiner symbolischen ökonomischen Zentrale in New York seine äußere Unbesiegbarkeit vor dem Milliardenpublikum der restlichen Welt bereits verloren hatte. Der nach dem Zerfall der Sowjetunion übrig gebliebene Hegemon ist inzwischen selbst Opfer des Prozesses der kapitalistischen Globalisierung geworden. Schon Trumps »Make America Great Again« war der um sich schlagende Versuch, die Gnadenlosigkeit des verselbständigten Weltmarktes vom eigenen Land – und darin von der Hybris der weißen Bevölkerung, immer zu den Gewinnern zu gehören - abzuschütteln, zumindest weitgehend auf andere Länder abzuwälzen. Die Biden-Regierung verfolgt die gleichen Ziele, stellt der ökonomischen Potenz jedoch deutlich aggressiver die militärische zur Seite und versucht die eigene Abschwächung durch die Erneuerung des atlantischen Bündnisses zu kompensieren. Russlands Trennungskrieg gegen den Westen wird auf der einen Ebene zweifellos seinen Erfolg haben: Die Trennung ist historisch gesetzt und schafft eine neue Weltlage. Die Ausrichtung des Blicks der Milliardenmassen auf den Westen wird sich grundlegend verändern. Unter der neuen Hegemonie der Nicht-Subjektivität des globalisierten Marktes, die anstelle der Dominanz der bipolaren Welt des 20. Jahrhunderts getreten ist, bleiben zersplitterte einzelne Blöcke zurück, deren aktuelle Aggressivität für die Menschheit sich daran messen wird, ob sie aufsteigend oder absteigend sind. Absteigend ist der Westen, Russland wahrscheinlich auch, denn nach der etablierten Trennung bleibt das Land technologisch zweit-, wenn nicht drittrangig[17]. Russlands Sieg im Trennungskrieg wird ein Pyrrhussieg sein, der mit anderen Konzessionen auf dem Weltmarkt bezahlt werden muss und aus Russland etwas anderes machen wird als das, was es in den Plänen seiner Elite werden soll. Das gilt für das Nato-System allerdings auch. Die Kriegsendlage ist meistens eine andere als jene, die die Akteure zu erzielen geplant hatten.
 
Russlands Trennungskrieg aus der Defensive.
 
Es geht, wenn ich hier den Westen attackiere, nicht darum, den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine als zweitrangig zu setzen. Die Ursachen dieses Krieges sind vielschichtig. Sie liegen weit vor dem nun ausgebrochenen Krieg. Aufrüstung und Aufhetzung der durchgehend korrupten ukrainischen Elite durch die USA und Teile ihrer europäischen Verbündeten als weiterer Vorposten gegen Russland und/oder Ausnutzung der imperialen Schwäche des Westens durch Russland zum Zwecke einer Stärkung der eigenen Stellung in der Welt. Erinnert sei hier auch an Barak Obamas Festlegung 2014 von Russland »als Regionalmacht« als Reaktion auf deren Krim-Besetzung[18], in der er gleichzeitig Russlands Vorgehen als Akt »nicht aus Stärke, sondern aus Schwäche« definiert[19]. Alles wird zu seinen Ursachen gehören. Ausreichend scheinen mir solche Erklärungen allein jedoch nicht zu sein. Mit dem Zerfall der Sowjet Union war Russland in die Defensive gefallen. Dieser Trennungskrieg ist ein Krieg aus der Defensive mit ungeheuren Folgen für Millionen Menschen. Wie jeder Krieg, ist auch dieser Krieg als Verbrechen zu bezeichnen. Sein allgemeiner Hintergrund ist der Zerfall der bisherigen Weltordnung nach dem Abstieg der USA als scheinbar siegender Hegemon nach dem Zerfall der Sowjet Union. Keine militärische Operation wird diesen Zerfall jedoch aufhalten. Im Unterschied zu 1945 wird es in diesem Krieg keine Sieger geben, egal wie er ausgeht. Deswegen halte ich, der ich mit Sicherheit kein Pazifist bin, jedes militärische Auskämpfen dieses Konflikts, den sowohl der Westen als auch Russland unterhalb der Schwelle eines Atomkrieges halten müssen (weshalb niemand als Sieger vom Feld gehen wird), für die barbarischste Variante, an deren Ende die Ukraine so zerstört zurückbliebe wie der Libanon nach seinen diversen Kriegen. Hier teile ich nicht die Haltung meines Freundes Slavoj Žižek, der im Juni 2022 die Alternative ›Stärkung der Nato versus Pazifismus‹ aufstellte unter dem Hinweis, dass »wir eine stärkere Nato [brauchen]- aber nicht als Verlängerung der US-Politik (»we need a stronger Nato – but not as a prolongation of the US politics«).[20] Was soll das sein? Die Nato existiert nur als Verlängerung der US-Politik! Besser einen falschen Weg gehen, als einzugestehen, dass alle Entwicklung derzeit über uns hinwegrollen und wir mit leeren Händen dastehen? Ist Handeln um des Handelns willen eine Option, einen Ausweg zu finden, wenn dieses Handeln von denen bestimmt wird, die eine falsche Welt vertreten und verlängern wollen?
 
Was tun?
 
Sind wir verloren? Festzustellen ist, dass sich – zumindest was Deutschland betrifft – ein Großteil der politischen Eliten auf Gedeih und Verderb mit den USA existentiell verbunden haben, um mit ihnen zu siegen oder mit ihnen unterzugehen[21]. Was jahrelang eher das Dogma des deutschen Konservatismus war: Das atlantische Bündnis stehe über allem und darf nicht infrage gestellt werden, ist heute Basis einer grün-liberalen Politikergeneration, die in ihrer politischen Unbedarftheit so phänomenal wie hochgefährlich ist.
 
Man darf sich über das vorherrschende Bewusstsein in den Metropolen keine Illusionen machen. Die öffentliche Propaganda steht fest im Dienst der Systemträger. Aber es ist nicht einfach nur Manipulation des gesellschaftlichen Bewusstseins durch den medialen Dauerbeschuss, der der potenziell suizidalen Politik einer militärischen Klärung der Weltlage zugunsten der überholten und in ihren Privilegien nicht haltbaren westlichen Welt eine parteiübergreifende Zustimmung auch von Seiten der Bevölkerung beschert. Durch die mit dem Sprung hin zum 24-Stunden-Tag des Kapitals bestimmte gesellschaftliche Lebensrealität ist die Zerstörung eines autonomen politischen Bewusstseins weitgehend vollzogen. Pasolinis bereits erwähnte desillusionierende Erkenntnis vom Anfang der 70er Jahre des vergangenen Jahrhunderts, dass mit der industriellen Etablierung einer Konsumgesellschaft eine »anthropologische Mutation« im Menschen sich vollzieht, kann längst als gesicherte Tatsache angesehen werden. Anstelle von in Jahrhunderten gewachsenen traditionellen Werten wie Treue, Verzicht, Hingabe, Verbindlichkeit zum anderen hin und alles andere mehr, mit denen sich die Menschen untereinander verpflichtet haben, ist nun der das gemeinsame Soziale negierende Hedonismus mit seinem ausschließenden Horizont der individuellen Befriedigung kompensatorischer Lüste gesetzt, die so oberflächlich wie trivial sind und heute und jetzt jeden relevanten Bezug zur Vergangenheit wie zur Zukunft verloren haben. Mit der Verbindlichkeit löst sich auch die Empathie zu den anderen auf. So ist die Welt des Westens auch zu bezeichnen: Empathielos gegenüber der großen Mehrheit der Menschheit.[22]
 
Wir werden nicht das Privileg haben wie M., furchtlos der eigenen Gefahr gegenüber - aber endlich der Ohnmacht entronnen - vom Balkon aus den gewaltsam herbeigeführten Untergang einer barbarischen Welt mit einem Glas Sekt in der Hand zu verfolgen. Die Kraft, die das könnte, ist heute nicht absehbar, auch wenn sich die Prozesse ankündigen, die alles in der Welt durcheinanderwirbeln werden. Wir haben keinen Grund, nicht pessimistisch zu sein. Alle Versuche seit der Oktoberrevolution, einen realen Befreiungsprozess in der Welt so zu erkämpfen, dass er zur eigenen Kraft wird, sind den Weltverhältnissen unterlegen, denen – hier bin ich dann wieder bei Marx: die Reife der Zeit offenkundig fehlte. Was heute an erster Stelle notwendig erscheint, ist die Entschleunigung und Verlangsamung als zentrale Bedingung, überhaupt noch in den längst in Gang gesetzten Zerfallsprozess eingreifen zu können. Aus dem, was heute als der politische Handlungsraum bezeichnet wird, wird dazu nichts kommen. Das sind verlorene Positionen. Von dort wird nur die Logik des Systems exekutiert. Diese Haltungen werden sowohl von der Form als auch vom Inhalt her mit den alten Verhältnisse untergehen. Wir dürfen uns ebenso keine Illusionen darüber machen, dass der neue Sozialismus, den wir brauchen, als Ableitung aus dem alten System entstehen könnte. Er wird als Bruch entstehen und damit als radikale Negation der Verhältnisse oder wiederum aufgefressen werden. Wir müssen nach dem suchen, was diesen Bruch herstellen kann. Unser Denken und Handeln heute macht nur Sinn, wenn es so gegen die Zeit ist, dass nichts von seinen Methoden und Inhalten integrationsfähig ist im bestehenden System.
Bedingung dieser Politik ist das Abwenden von den Verhältnissen unserer Zeit. Wir werden es nicht schaffen, einen Reparaturbetrieb in einem sich selbst zerstörenden Prozess zu betreiben. Wir gehen damit nur in Begriffslosigkeit eingeschlossen unter. Diese Welt ist historisch dem Tod geweiht. Sie zerstört sich selbst, aber unsere Aufgabe ist es, diese Zerstörung zu antizipieren und die Existenz und die Notwendigkeit eines Außen in die gesellschaftlichen Verhältnisse einzuschreiben.
 
Natürlich sagen wir: Nein zum Krieg. Wir sagen: Nein zu einem kriegführenden Russland! Nein zur Nato, nein zum Versuch der US-amerikanischen Elite, wieder die Hegemonie in der Welt zu erkämpfen, nein zur oligarchischen Elite in der Ukraine! Nein zum Kapitalismus als fortdauernde Lebensgrundlage der Menschheit. Wir sagen Nein zu allem, was nicht davon bestimmt ist, den Bruch mit der falschen Welt voranzutreiben. Das wäre ein Weg, um zu dem zurückzukommen, was man Politik nennen könnte.
 
Freiheit für Julian Assange!
Karl-Heinz Dellwo
(Oristano-Torregrande, Anfang August 2022)


[1] Ich verdanke diese reale Geschichte meinem Freund Thomas Seibert, Philosoph aus Frankfurt, welchem diese von der Tochter des Betroffenen erzählt wurde.
[2] Robert Kurz: Der Tod des Kapitalismus. Marxsche Theorie, Krise und Überwindung des Kapitalismus. LAIKA-Verlag 2013, S. 26
[3] Roland Barthes: Sade Fourier Loyola, suhrkamp taschenbuch wissenschaft, 3. Auflage 2015, S. 102
[4] https://intermarketandmore.finanza.com/draghi-il-pilota-automatico-e-il-fiscal-compact-53690.html
[5] Ein Begriff von Alberto Moravia, auf den sich Pier Paolo Pasolini später bezieht, Vgl. hierzu: Pasolini Bachmann, Gespräche 1963 – 1975, Vol. 1 | Bachmann Pasolini, Vol. 2, Der Kommentar, von Fabien Vitali, Doppelband 848 S., Hrsg.: Fabien Vitali und Gabriella Angheleddu, Galerie der abseitigen Künste Hamburg 2022, hier Vol. 1 S. 87 und Vol. 2 S. 124.
[6] MEW 23, Kapital Bd. I, S. 163 ff, Dietz Verlag
[7] Vgl. hierzu ebenso: Pasolini/Bachmann, FN 5 oben, insbesondere Vol. 2, Fabien Vitali, Der Kommentar, S. 142: »Hier versprechen materieller Wohlstand und Genuss (…) eine Befreiung von der Bürde des menschlichen Daseins, eine Art Teufelspakt, da diese einhergeht mit der schwerwiegenden Aufhebung der Freiheit, anderes oder mehr zu sein, als ein Konsument überflüssiger Güter und damit ein bloßer Faktor der bürgerlichen Produktionsverhältnisse.«
[8] Siehe auch Alain Badiou: »Der Kommunismus, das ist die universelle Berufung, die in einer lokalisierbaren Etappe der Emanzipationspolitik enthalten ist. Die Frage des Kommunismus ist diejenige der politischen Aktion, wenn man weiß, dass sich diese nicht auf die Interessenverfolgung dieser oder jener Gruppe reduzieren kann.«, in: Alain Badiou / Slavoj Žižek: Die Idee des Kommunismus Bd. II, S. 13, LAIKA-Verlag 2012.
 
[9] Was sich hier zeigt, ist auch, wie tief verwurzelt und virulent noch dieser ideologische Topos des Nazi-Reichs in der Gesellschaft steckt, gerade auch bei denen aus der 3. Generation nach Hitler.
[10] Eine Kontinuität von drei Jahrhunderten: 1707 (Karl XII.); 1812 (Napoleon); 1914 (Mittelmächte Deutschland und Österreich-Ungarn); 1941 (Deutsches Reich).
[11] »Ursula von der Leyen sagt ganz offen: Es geht darum, die industrielle Basis des Landes zu zerstören«. FAZ, 25.02.2022, EU-Sanktionen: Banken, Flugzeuge, Raffinerien – so vergilt Europa Putins Angriffskrieg. Von Thomas Gutschker, Brüssel [ironischerweise mit dem Vermerk versehen »Aktualisiert am 25.02.2022-04:49« - man könnte gleich auch den Führer zitieren: »Seit 5:45 Uhr wird jetzt zurückgeschossen«].
[12] Als zwei Beispiele für viele: 
Georg Friedrichs, Vorsitzender der GasAG Berlin: »Duschen, Spülen, Händewaschen am besten verkürzen«; wer »jung und durchtrainiert ist [kommt] mit zwei Pullovern und ein bisschen Treppensteigen gut über den Winter«, Quelle: https://exxpress.at/energie-manager-raet-fuer-den-winter-haendewaschen-verkuerzen-pullover-anziehen/, abgerufen am 13.08.2022 – interessanterweise wird hier, nachdem die Gesellschaft geradezu dahin angetrieben wurde, wegen der Pandemie ständig die Hände lang und gründlich zu waschen, nun die Waschzeiten verkürzt. Katrin Göring-Eckardt (Bündnis 90/Die Grünen): »Jetzt: kurz duschen, ausmachen, einseifen, abwaschen, fertig. (…) Wir werden lernen müssen, Einschränkungen hinzunehmen.«, Quelle: https://www.t-online.de/nachrichten/deutschland/innenpolitik/id_100033020/katrin-goering-eckardt-gruene-die-einschraenkungen-sind-nur-der-anfang-.html, abgerufen am 13.08.2022
[13] Vgl.: Eintopfsonntag, https://de.wikipedia.org/wiki/Eintopfsonntag
[14] Vgl. Alain Badiou/Fabien Tarby, Die Philosophie und das Ereignis, TURIA + KANT, Ausgabe 2017, S. 17 ff. Für Badiou ist das Ereignis verbunden mit dem Eröffnen von Möglichkeiten: »Ein politisches Ereignis ist etwas, das eine Möglichkeit auftauchen lässt, die der Kontrolle über das Mögliche durch die herrschende Macht entrinnt«, hier S. 19
[15] Angemerkt sei hier Madeleine Albright, US-Außenministerin, die auf die Frage der Journalistin Lesley Stahl am 12. Mai 1996: »Wir haben gehört, dass eine halbe Million Kinder gestorben sind (wegen der Sanktionen gegen den Irak)« antwortet: »Ich glaube, das ist eine sehr schwere Entscheidung – aber der Preis, wir glauben, es ist den Preis wert«. https://www.youtube.com/watch?v=uJtSpev8zWk
[16] Dieser Krieg ist nicht der erste Krieg auf europäischem Boden nach 1945. Lässt man die Bürgerkriege im sich auflösenden Jugoslawien in den 90er Jahren außer Acht, so ist als erster Angriffskrieg in Europa der Nato-Krieg gegen Serbien 1999 zu werten, der ohne UN-Mandat stattfand und in dem sich die Nato-Staaten de facto mit der faschistischen UÇK der Kosovo-Albaner verbündeten, denen später neben Drogen- und Organhandel auch schwere Kriegsverbrechen vorgeworfen wurden. Vgl.: https://de.wikipedia.org/wiki/U%C3%87K
[17] Als aufsteigend ist China zu bezeichnen, das auf Grund seiner wirtschaftlichen Stärke, die noch längst nicht ihren Höhepunkt erreicht hat, keine Strategie der militärischen Aggression verfolgen muss, umso mehr aber vom Westen aus als neuer zentraler Feind definiert wird. 
[18] Vgl. als Beispiel für viele: »Ukraine-Krise. Obama verhöhnt Russland als Regionalmacht«. In: https://www.spiegel.de/politik/ausland/ukraine-krise-obama-verspottet-russland-als-regionalmacht-a-960715.html
[19] ebenda
[20] Pacifism is the wrong response to the war in Ukraine, The Guardian, 21. Jun 2022
https://www.theguardian.com/commentisfree/2022/jun/21/pacificsm-is-the-wrong-response-to-the-war-in-ukraine
[21] Annalena Baerbock: »Wir müssen eine stärkere, unumkehrbare transatlantische Partnerschaft für das 21. Jahrhundert aufbauen.« https://www.spiegel.de/politik/deutschland/annalena-baerbock-wirbt-fuer-transatlantisches-verhaeltnis-auf-augenhoehe-a-2a208707-e456-4911-83ab-6c059e43430a, abgerufen am 03.08.2022
[22] Vgl. hierzu: Pasolini Bachmann, s. FN 5 , hier Vol. 2 S. 350 ff, a.a.a. Stellen.

 

Der Artikel ist in deutsch erschienen in: DIE SICHEL. Literatur & Debatte, Nr. 7, Herbst 2022, 2. Jahr /Auflage: 10.000, inzwischen vergriffen, jedoch herunterladbar hier: https://alte-schmiede.at/die-sichel/document/die-sichel-7

Eine Veröffentlichung findet sich auch hier, eine der derzeit interessantesten Plattformen für Politik, Kultur und Philosophie im Netz: https://non.copyriot.com/ist-politik-heute-noch-moeglich/

Ebenso erschien der Artikel in Auszügen in der Junge Welt unter dem Titel »Beschleunigte Zerstörung. Eine gleichgültige Classe politique tritt den Marsch in den Abgrund an. Über den Krieg in der Ukraine, über Bellizismus und die Zukunft des Kapitalismus«, JW 2. November 2022, Nr. 155. Seite 12/Thema: KAPUTTER KAPITALISMUS

https://www.jungewelt.de/artikel/437750.kaputter-kapitalismus-beschleunigte-zerst%C3%B6rung.html