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Rede Sozialforum 12. Aug. 2004

Rede vor dem Hamburger Sozialforum am 12. August 2004


Diese Rede richtete sich gegen den Versuch der Traditionssozialisten, die neuen Sozialproteste für eine neue Partei zu instrumentalisieren.

Hartz IV ist zum Begriff geworden für etwas, was viele existentiell bedroht.  Ich möchte nichts von dem in Frage stellen, wenn Menschen sagen: das lassen sie sich nicht bieten, das muß weg. 

Ich finde es selbstverständlich, daß man solidarisch sein muß mit denen, die dagegen kämpfen, daß sie in ihren Lebensrechten noch weiter beschnitten werden. Ich finde es deshalb gut, daß es Montagsdemos gibt und was immer noch kommt. Man muß hier im Alltag nicht mit einer ideologischen Kritik kommen.

Trotzdem müssen wir auch darüber hinausdenken. Ich glaube nicht daran, daß der Kapitalismus  menschenfreundlich werden kann. Ich glaube nicht daran, daß wir die Ausdehnung und Neustrukturierung von Armut bekämpfen können, wenn wir das nicht als notwendige, als zwanghafte Folge des kapitalistischen Systems betrachten. Und ich glaube nicht daran, daß es gesellschaftlich ein Zurück gibt zu alten Zuständen, die plötzlich als Positiv betrachtet werden, als ob da Hunger, Elend und Gewalt nicht ebenso tägliche Realität in der Welt gewesen wäre.

Anders gesagt: Unser Problem auf Dauer ist nicht Hartz IV. Hartz IV ist erst ein Anfang. Unser Problem ist, daß der Kapitalismus so ist wie er sein muß und daß er anders nicht funktionieren kann.

Etwas anderes zu suggerien ist unlauter. 

Agenda 2010 ist ein europäisches Projekt. Man kann es auch so zusammenfassen:
Die einzelnen, alten Nationalstaaten sind im weltweiten Konkurrenzkampf zu schwach, um genügend Profit nach innen zu transportieren, mit dem hier dann auch der Klassenkompromiss weiter bezahlt werden könnte. Deswegen wird überall gekürzt. Nach der Agenda 2010 muß Europa  fit gemacht werden als Weltmacht. Dann kann es gegen die anderen Wirtschaftszentren bestehen und wieder soviel Profit nach Europa ziehen, daß der sozialstaatliche Klassendeal, also der Konsens zwischen Masse, Mittelschicht und Reichen  auf Basis der Ausbeutung von Menschen verlängert werden kann (das war die ideologische Basis des ganzen „Sozialstaatsmodell“, das war der Konsens zwischen oben und unten, damit müssen wir uns auch auseinandersetzen: Das „Sozialstaatsmodell“ hatte auch, indem von vorneherein die Mehrheit der Menschheit ausgeschlossen war, eine korrupte Seite).

Europa kapitalistisch fit zu machen - das ist das ganze „politische“ Geheimnis der Wirtschaftspolitik von Schröder, Clemens oder Bütikofer: Rettung des Wirtschaftssystems durch den europäischen Superstaat, Augen zu und durch auf die nächst höhere Stufe der kapitalistischen Produktion. Sie hoffen blind darauf, daß das Kapital dann wieder soviel abwirft, daß die Masse hier dann wieder ökonomisch ruhig gestellt werden kann. Die Zeche zahlen in diesem Bild wieder  andere in der Welt. In ihrem „Neuen Kapitalismus“  steht für die Masse der Menschheit weiterhin immer alles zur Debatte, während die Logik des Kapitalismus unantastbar ist. Sie haben nur eine Option, sie kämpfen dagegen, daß eine andere Welt möglich wird.

Wir können keinen Widerstand entwickeln, der nicht die Armut in der ganzen Welt sieht. Eine Revolte ist nur dann progressiv,  wenn ihre Prinzipien verallgemeinerbar sind, wenn sie potentiell die Menschheit in der Gleichberechtigung ihrer Lebensbedürfnisse einschließt. Hartz IV und noch schlimmeres war schon immer für viele Menschen im Inland, noch  mehr in der ganzen Welt bittere Realität.

Ein Kampf, der nicht mit dem Armen und Unterdrückten in den anderen Teilen der Welt zusammen kommen will, ist nichts wert.

Wenn wir nicht Opfer der inneren Logik des Kapitals bleiben wollen, müssen wir notwendig die Systemfrage stellen. Das kapitalistische System ist für die Mehrheit der Menschheit unbrauchbar und muß geändert werden. Wir haben jeder das Recht darauf, das Potential unseres Lebens zu entfalten, egal wo wir leben. Niemand hat ein Recht darauf, unsere Lebensbedürfnisse an den Interessen einer destruktiven Ökonomie kleinzuhacken. Es sind nur noch kranke und barbarische Zustände, wenn man sieht, was für wissenschaftlich-technologische Kompetenzen die Menschheit entwickelt hat und wie sie nur für die Reichtumgsproduktion von Minderheiten mißbraucht werden.

Es gibt keinen Reichtum der nicht woanders gestohlen wurde. Niemand hat das Recht auf Reichtum und niemand hat die Pflicht, in erzwungener Armut sein Leben leben zu müssen. Ich finde, das sollte Teil der politischen Ausgangsbasis unseres Kampfes werden.

Wir sind  viele und doch stehen wir dabei auch alleine. 

Herr Pumm, der dem DGB Hamburg vorsteht, erklärt am 5. August öffentlich: „Für die Forderung nach einer Rücknahme von Hartz IV ist es zu spät“. Die Nachricht kommt an: Am 6. August schreibt der Kommentator des Hamburger Abendblatt dazu: „Die Proteste werden Aufsehen erregen. Aber sie werden auch wirkungslos bleiben. Denn die Reform ist beschlossen, der Protest kommt zu spät.“
Die Deutschen Gewerkschaften müssen vom Kapital nicht besiegt werden. Sie fressen Scheiße von alleine. Sie scheinen unfähig zu sein, sich außerhalb der Logik des Kapitals zu denken. Für sie ist eine andere Welt offensichtlich unmöglich.

Der Hamburger Koordinator für die Wahlalternative, Bischoff, erklärt zu den Zielen der neuen Partei: „Das Arbeitslosengeld II soll um 20 Prozent höher ausfallen“.  Da verschlägt es einem fast die Sprache. Bei einem Arbeitslostengeld II in Höhe von 345 EUR sind 20 % genau 69 EUR. Das wird aus einer neuen gesellschaftlichen Bewegung gemacht: eine kleinkarrierte Abfindung, die keinen Reichtum in der Gesellschaft berüht. Man kann sicher sein, daß die Wahlalternative sollte sie zur Partei werden und in irgendeine Verantwortung kommen, darüber auch noch verhandeln wird. 

Auch in unseren Reihen, kaum daß wir aufgebrochen sind, geht schon das Geeiere los:
Ich will hier keine Personalisierungen, deshalb lasse ich den Autor weg. Zitat aber aus einer Diskussion im Hamburg Journal von einem der Sozialforumssprecher:

„Ich denke, dass eine ganze Menge an Änderungen notwendig sind, bis hin zur Substanz des Gesetzes, aber auch in den Ausführungsbestimmungen, sowohl auch im Umgang mit den Arbeitslosen wie mit den Sozialhilfebeziehern konkret auch in Hamburg“.
Haben wir keine Sprache mehr um klar zu sagen was ist? An welchen taktischen Finessen orientieren wir uns da? Vor wem und warum sollen wir uns defensiv gebärden? Ich würde lieber den Satz zu uns sagen von früher: Habt Mut zu kämpfen, habt Mut zu siegen! 

Offensichtlich ist es so, daß wir für diesen neuen sozialen Aufbruch  - der es ja werden soll -  noch unser eigenes Ich und unser eigenes Wir entwickeln müssen. Ich habe keine Standardlösungen, ich glaube, daß hier noch die meisten Fragen offen sind.  

Für uns bedeutet das um so mehr, daß wir einen politischen Raum brauchen, in dem wir alles neu bestimmen, die Bestimmungen aber auch politisch offen halten können. Für uns bedeutet das meiner Meinung nach auch, daß wir keine Strukturen reproduzieren dürfen, die bereits versagt haben. Dazu zählen für mich auch Parteien mit ihrer Repräsentanz und ihre Orientierung auf den Staat, der längst von den globalen Wirtschaftsprozessen entmachtet ist.

Ich meine, daß unser Raum ein öffentlicher ist und daß unser Raum die Straße ist, wo wir uns individuell und gemeinsam artikulieren und verständigen. Ich meine, daß unsere Struktur hierarchiefrei sein muss, bemüht um Offenheit, Einheit in der Differenz, Gleichberechtigung und Zusammenarbeit. Ich meine, daß unser Raum und unsere Struktur uns Mut machen soll, neues zu denken und neue Wege zu gehen. Ich finde, daß wir mit jeder Protestaktion versuchen sollten, die Systemlogik zu überwinden, einen Schritt weiter zu kommen in der Ausbildung einer Systemalternative und daß wir uns solidarisch stärken in diesem Kampf. 

Und ich finde, daß wir den Privatbesitz an Produktivvermögen und das Verfügen über enormen Reichtum politisch und sozial delegitimieren müssen.

Wir müssen eindeutig sein, daß dieser Reichtum kriminell ist. Wir wollen eine Welt, in der der Reichtum für wenige und die Armut für viele abgeschafft sind, wo strukturell für jeden die Möglichkeit da ist, seine Lust am leben zu entwickeln.

Karl-Heinz Dellwo
12. Aug. 2004