Nachruf von Lutz Schulenburg:
Tageszeitung junge Welt
30.08.2008 / Feuilleton / Seite 13
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Wirklich aufmerksam
Kommunismus war für ihn der Gegensatz zu Einsamkeit. Christian Geissler ist tot
Nun ist der »olle Geissler« tot. Er sagte gern »oller Geissler«, wenn er mit mir von sich sprach. Es war einer von den schönen persönlichen Zügen, spöttisch zu sein, obgleich ihm die Aura des Hardliners voranflatterte. Aber seine schöne Stimme mit dem Hamburger Tonfall und sein Gespür für Ironie bewirkte, daß man ihn gern sah, mit ihm sprach und erwartungsvoll zuhörte. Er zählt zu den wenigen Menschen, die ich kenne, die anderen gegenüber wirklich aufmerksam waren. Geissler lebte den Wunsch, den anderen als eine autonome Person wahrzunehmen, zu verstehen und ihm nahezukommen. Er verlangte von seinem Gegenüber nie eine Zustimmung ohne Widerspruch. Er verlangte von den anderen nicht, als Autorität anerkannt zu werden.
Er war aber im menschlichen Umgang nicht opportunistisch. Ganz im Gegenteil. Seine Lust auf Menschen war echt und unverkrampft. Das war sein gelebtes kommunistisches Selbstbewußtsein. Und das stand nicht bloß wie eine ideologische Vogelscheuche im Eventuellen des Gesinnungsstreits herum. »Kommunismus« war für ihn der Gegensatz zu »Einsamkeit«. Und seine Aufmerksamkeit war eine unerläßliche Voraussetzung, um der falschen Vergemeinschaftung zu entgehen. Seine oftmalige Düsterkeit, die in meinen Augen den »Ollen« wie in einem schwarzen Loch verschwinden ließ, rührte vielleicht von dieser Erfahrung her: der menschlichen Isolation. Der isolierte Mensch, der im Kapitalismus erzeugt wird, ist der lebensgehemmte Mensch, den eine »Totmacher«-Mentalität auszeichnet.
Geisslers »schwarze Gedanken« und seine Hartnäckigkeit, mit der er für seine kommunistische Haltung eintrat, waren von der Erfahrung der Nazizeit geprägt. Das muß für ihn als junger Mensch eine Situation gewesen sein, in der er sich dem »Bösen« ausgeliefert sah. Ich möchte dies nicht theologisch verstanden wissen, aber einmal sagte Geissler mir, als er über ein neues Buch sprach, ihm hätte dies Wort bei der Beschreibung der niederträchtigen Lebensumstände, in der seine Figuren gefangen wären, gefehlt, und er bedauerte die klerikale Entwendung dieses Wortes. Die Erinnerung, so kam es mir immer vor, an die Epoche der Verlogenheit und des Mordens (im Faschismus kam der isolierte einzelne zum Tragen, als ein todbringender und todesbereiter Mensch), war für ihn die unlösbare Kränkung. Und im Rückblick, im Nachkrieg, war es die Gestalt des »Kommunisten«, des Widerstehenden, die ihm einen Ausweg bot, das Todes-Zeichen von sich selbst abzuwaschen.
Wie jeder Mensch, so ist auch Christian Geissler nicht einfach zu fassen.
Der Weg vom Flakhelfer über den linkskatholischen Kreis und die »Werkhefte katholischer Laien« zur illegalen KPD und von da zu einem Verständnis des bewaffneten Kampfes in Westeuropa ist nicht gradlinig. Und zwischen diesen Fixpunkten der politischen Orientierung war er auch noch Ehemann, Vater, Schriftsteller, Filmer – dem die Sehnsucht nach ländlicher Schönheit nicht fremd war. Er hatte, wenn ich das richtig sehe, sogar ein ausgesprochenes Faible für abwegige Örtlichkeiten.
Wie jeder gute Schriftsteller ist auch Christian Geissler schwer mit anderen Autoren vergleichbar. Sein Schreiben, seine Bücher sind »einzigartig« in der deutschen Nachkriegsliteratur. Nicht etwa weil er politisch war, das waren auch andere, sondern weil er sich nicht mit der ideologischen Oberfläche begnügt hat. Verwandt ist er sicherlich mit Peter Weiss, nur wurde er nicht so gelobt. Auch andere Namen könnte man anführen: etwa Alfred Döblin und Franz Jung – mit beiden verbindet ihn die untergründig wirkende Gefühlsaufladung.
Vergleiche aber sind nur Krücken. Zurück zur »Außerordentlichkeit«, die in meinen Augen von seinem Willen herrührt, mit seinen Romanen das praktische Tun der Gegenwart zu beeinflussen, ohne dabei Konzessionen an die literarische Form zu machen. Der Ton und die Form, die Musikalität seines Stils, seine immer differenzierten Figuren und das Fluten des Geschichtlichen in die Gegenwart machen seine Bücher zu einer raren Erscheinung. Die Romane galten gelegentlich sogar bei »Linken« als schwierig. Das muß aber nichts besagen, in einem Land, in dem ein Autor wie Grass als Musterbeispiel des politisch engagierten Intellektuellen gilt. Der Schriftsteller Geissler bleibt, weil er unversöhnlich war gegenüber Verhältnissen, in denen dem Menschen die Freiheit, Schönheit und Würde genommen wird. Ein Mann der Zukunft, mitten in der Gegenwart.
Ein Freund und Genosse ist tot, schon vermißt man ihn. Nun muß man ohne ihn zurecht kommen. Dabei wird einem zunächst nicht wärmer.
Lutz Schulenburg ist der Verleger der Hamburger Edition Nautilus, in der die Bücher von Christian Geissler erschienen sind
Nautilus-Verlag:
Zum Tod des Schriftstellers und
Dokumentarfilmers Christian Geissler
Am Anfang seines literarischen Schreibens stand eine „Anfrage“. Der 1960 erschienene Roman stellt die Frage nach der Verantwortung der Väter im Nationalsozialismus, als erster auch die nach der Beteiligung an der Vernichtung der Juden. „Wo war Ihr Herr Vater am 9. November 1938, nachts?“ – in dieser Präzision geht Klaus Köhler, der Protagonist des Romans, dem Schicksal einer jüdischen Familie in Frankfurt und der Rolle ihrer ganz normalen Nachbarn in der Reichspogromnacht nach. Denn wo persönliche Verantwortung liegt, ist auch Schuld, steht die Frage nach Konsequenzen im Raum. Dabei rückt Geissler aber auch die gesellschaftlichen Bedingungen, die den Verhältnissen inne-wohnende Logik ins Blickfeld. Das Buch traf einen Nerv, im Wirtschafts-wunderland Bundesrepublik Deutschland waren viele Einzelne dabei, sich in einer als „Kollektivschuld“ getarnten „Unschuld“ einzurichten.
Christian Geissler, geboren im Dezember 1928, war gerade noch alt genug, um als Flak-Helfer in den Krieg eingezogen zu werden. Sein Va-ter war Bauunternehmer in Hamburg, Nationalsozialist, überlebte den Krieg nicht. Seine Mutter stammte aus einer bürgerlichen, polnischen Familie. Geissler wurde Mitglied der Hitler-Jugend und sah das Leid, wenn jüdische Freunde der Mutter aus Deutschland fliehen mussten oder Menschen einfach verschwanden. In diesem persönlichen Erleben wurzelt die „Anfrage“. Die Antworten führen den Autor zunächst in den linkskatholischen Kreis um die „Werkhefte katholischer Laien“, dann in die Ostermarschbewegung gegen die atomare Aufrüstung, in die illega-le KPD und in den siebziger Jahren in die Nähe der RAF. Als politisch Handelnder, als Dokumentarfilmer und Autor („Kalte Zeiten“, „Das Brot mit der Feile“, „kamalatta“, „Im Vorfeld einer Schussverletzung“, „Klopf-zeichen“ u.a.) richtet er seine Fragen jetzt an die eigene Generation: Was ist das für eine Gesellschaft, die mit Militärdiktaturen in aller Welt zu-sammenarbeitet, an der Seite der USA den Vietnamkrieg gut heißt, im Inneren Notstandsgesetze durchsetzt? Wie leben die Menschen in einer solchen Gesellschaft, gerade jene, die nicht von den Machtverhältnissen profitieren? Welche Möglichkeiten des Handelns, welche Verantwortung hat der Einzelne? Politische Gewalt ist dabei nie sein Credo, stets aber eine ernst zu nehmende Frage, die er in seinem Romanen gestaltet. Zuletzt hat er noch einmal große Aufmerksamkeit erregt, als er 2001 zu-sammen mit seinem Sohn, dem Dokumentarfilmer Benjamin Geissler, im ehemals polnischen Drohobycz die lange verschollen geglaubten Wandfresken des von den Nationalsozialisten ermordeten jüdischen Malers und Schriftstellers Bruno Schulz wiederentdeckt hat.
„Die Liebe zum Leben“, so Geissler, hat ihn zu einem politischen Men-schen, zu einem politischen Autor werden lassen. Die Fragen, was ein Leben bedeutet, was es „wert“ ist, wodurch es bedroht wird und wie es sich befreien kann, prägen sein gesamtes Werk. Nach der Zeitenwende 1989 fügt er seinem Autorennamen ein in Klammern gesetztes „(k)“ hin-zu, um zu zeigen, dass er Kommunist bleiben würde. Auf der einen Seite die Ohnmacht, die Erfahrung, gegen die Macht der Verhältnisse nichts ausrichten zu können, das politische Scheitern. Auf der anderen Seite dieses Festhalten daran, als Individuum frei verantwortlich zu sein, han-deln zu müssen. Dieser Zwiespalt bestimmte fast sein ganzes Leben – und auch sein Sterben. Bis zuletzt hat Christian Geissler seine eigenen „Verhältnisse“, die Macht des Krebsgeschwürs in seinem Körper und die eigenen, schwindenden Kräfte analysiert, hat er den Zeitpunkt bestimmen wollen, an dem er kapituliert. Er starb am 26. August 2008 in Hamburg.
Fernsehfilme
“Anfrage”. Regie: Egon Monk. Norddeutscher Rundfunk/ARD. 15. 2. 1962.
Schlachtvieh”. Regie: Egon Monk. Norddeutscher Rundfunk/ARD. 14. 2. 1963.
“Wilhelmsburger Freitag”. Regie: Egon Monk. Norddeutscher Rundfunk/ ARD. 19. 3. 1964.
“Flakhelfer” (in der Reihe “Die eigene Geschichte”). Norddeutscher Rundfunk. 7. 3. 1978.
“Frau eines Führers” (in der Reihe “Die eigene Geschichte”). Norddeutscher Rund-funk. 20. 11. 1979.
“Zeugen der Zeit: Richard Scheringer”. Norddeutscher Rundfunk. 5. 9. 1980.
Bücher:
“Anfrage. Roman”. Hamburg (Claassen) 1960. Lizenzausgabe: Mit gesondertem Vorwort des Autors. Berlin, DDR (Aufbau) 1961. Neuausgabe: Mit einem Nachwort von Thomas Rothschild. Hamburg (Rotbuch) 1996.
“Schlachtvieh. Ein Fernsehspiel”. Hamburg (Claassen) 1963.
“Kalte Zeiten. Erzählung, nicht frei erfunden”. Roman. Hamburg (Claassen) 1965. Lizenzausgabe: Berlin, DDR, Weimar (Aufbau) 1966.
“Ende der Anfrage”. Erzählungen, Reden, Stücke. München (Rütten & Loening) 1967. Lizenzausgabe der erw. Fassung: Berlin, DDR, Weimar (Aufbau) 1967.
“Altersgenossen”. Fernsehspiel. In: kürbiskern. 1970. H. 2. S. 181–219.
“Das Brot mit der Feile. Roman”. München, Gütersloh, Wien (Bertelsmann, Autoren-Edition) 1973. Neuausgabe: Berlin (Rotbuch) 1986.
“Wird Zeit, daß wir leben. Geschichte einer exemplarischen Aktion”. Roman. Berlin (Rotbuch) 1976. (= Rotbuch 154).
“Die Plage gegen den Stein”. Arbeiten aus den Jahren 1958–1965. Reinbek (Ro-wohlt) 1978. (= rororo 4300).
“Im Vorfeld einer Schußverletzung. Gedichte von Juli 77 bis März 80”. Berlin (Rot-buch) 1980. (= Rotbuch 230).
“spiel auf ungeheuer. Gedichte von April 80 bis November 82”. Berlin (Rotbuch) 1983. (= Rotbuch 280).
“kamalatta. romantisches fragment”. Berlin (Rotbuch) 1988.
“dissonanzen der klärung. an die genossinnen und genossen der roten armee frakti-on. kamalatta – flugschrift 2”. Kiel (zapata buchladen) 1990.
“winterdeutsch. Zweite Flugschrift”. In: Die Aktion. 1992. H. 89/92. S. 1451–1513
“Prozeß im Bruch. Schreibarbeit Februar 89 bis Februar 92. Musik mit Singstimme und Trommel, Messungen und Messer”. Hamburg (Edition Nautilus) 1992.
“Klopfzeichen. Gedichte von 83 bis 97”. Hamburg (Rotbuch) 1998
“Ein Kind essen. Liebeslied”. Hamburg (Rotbuch) 2001.
“Wildwechsel mit Gleisanschluß. Kinderlied”. Hamburg (Rotbuch) 1996.
Nachruf von Jürgen Lodemann, DRADIO, Kultur heute, 28.08.2008
Hieronymus Bosch des Deutschen Herbstes
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Der Tagesspiegel
Von Wend Kässens
5.9.2008 0:00 Uhr
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Christian Geissler
Der Radikale
Ästhetische und politische Radikalität trieben ihn ins literarische Abseits. Seine Bücher lesen sich als Versuche der Selbstklärung: Zum Tod des Schriftstellers Christian Geissler.
Aufsehen erregte er zuletzt 1999, als er mit seinem Sohn, dem Dokumentarfilmer Benjamin Geissler, im heute ukrainischen Drohobycz die Wandgemälde des ermordeten polnisch jüdischen Malers und Schriftstellers Bruno Schulz aufgespürt hatte, die der während der deutschen Besatzung auf Befehl der Nazis malen musste. Christian Geisslers Schreiben kam aus seinen Erfahrungen als 16-jähriger Flakhelfer im Zweiten Weltkrieg, aus der Wahrnehmung der kollektiven Verdrängung im Wiederaufbau, der Wiederbewaffnung und der Restauration. Damals war er zum Katholizismus konvertiert, hatte ein Studium der Psychologie begonnen und jobbte herum, bevor er Ende der 50er mit ersten Hörfunksendungen und Fernsehspielen beim NDR reüssierte.
Alle Bücher Geisslers lassen sich lesen als Versuche der Selbstklärung, von dem Roman „Anfrage“ (1960) bis zu dem als „liebeslied“ bezeichneten Buch „ein kind essen“ (2001). Sein Erstling „Anfrage“ war aus dem Anspruch entstanden, verstehen zu wollen, was passiert war – im Faschismus, im Krieg und danach, im kollektiven Schweigen. Er lebte, was er schrieb, darin war er Peter Weiss nahe, mit dessen „Ästhetik des Widerstands“ er sich wie mit keinem anderen Roman auseinandergesetzt hatte. Er verstand sich als homo politicus, war in den 60er Jahren Mitglied im Kuratorium der Kampagne für Abrüstung und Ostermarsch, Mitherausgeber der marxistischen Literaturzeitschrift „Kürbiskern“, eine kurze Zeit Mitglied in der illegalen KPD und zu Beginn der 70er Jahre Mitbegründer des Hamburger Komitees gegen Folter an politischen Gefangenen in der Bundesrepublik Deutschland.
Mit Ulrike Meinhof war er befreundet, mit anderen Mitgliedern der RAF bekannt, ohne dass er deren gewaltsamen Kampf gutgeheißen hätte. Ästhetische und politische Radikalität trieben Geissler ins literarische Abseits. Verlangt doch dieses Werk der Empörung auch vom Leser Konsequenzen. Alle drei großen Romane erfordern ein hohes Maß an Konzentration: „Das Brot mit der Feile“ (1973) über die Arbeiter- und Studentenkämpfe im Hamburg der 60er Jahre, „Wird Zeit, dass wir leben“ (1976) über die beginnende Naziherrschaft, und „Kamalatta“ (1988) über eine bewaffnete RAF-Aktion gegen eine Antiguerillakonferenz des Pentagon in Bad Tölz. Geissler war ein Meister des fragmentarischen Erzählens, des harten Schnitts und der Montagetechnik, die er Ende der 50er Jahre als Mitarbeiter Egon Monks beim NDR-Fernsehen und Ende der 60er als Dozent an der Deutschen Film- und Fernsehakademie in Westberlin kennengelernt hatte. Prosa und Lyrisches ergänzen und kommentieren sich in Geisslers späten Büchern – auch in seinem letzten Roman „Wildwechsel mit Gleisanschluss“ (1996). Vergangene Woche ist er 79-jährig einer Krebserkrankung erlegen.
(Erschienen im gedruckten Tagesspiegel vom 05.09.2008)
Nachruf von Klaus Mellenthin, analyse & kritik, Heft 531 v. 19.09.2008
http://www.akweb.de/ak_s/ak531/11.htm
Er war ein Geschenk
Zum Tod von Christian Geissler
"Guten Abend, Klaus, ich rufe vom Krankenhaus an. Die Diagnose ist jetzt ein rasch wachsender bösartiger Tumor. Ich komm' morgen schon in die Chemo, das geht dann über Tage so weiter. Wenn man nichts macht, ist es in zwei bis sechs Monaten vorbei, wenn man was macht, kann es bis zu zwei Jahren gut gehen. Das wollte ich dir und der Gruppe noch sagen - ich komme vorbei, sobald ich kann. Und vielen Dank für die herzlichen Grüße von euch allen. Tschüß, lieber Klaus."
Ein Anruf von Christian Geissler vor knapp einem Jahr. Ich war nicht zu Hause, er hatte auf den Anrufbeantworter gesprochen. Bei der von ihm erwähnten "Gruppe" handelt es sich nicht, wie man wohl erwarten würde, um eine linke oder gar revolutionäre Gruppe, sondern um die Teilnehmenden an den von mir geleiteten Seminaren zum Thema "Jüdische Lebenswelten" in der Hamburger Volkshochschule (VHS). Christian nahm bald nach seiner Rückkehr aus dem Rheiderland seit dem Frühjahr 2005 und bis zum Sommer 2007 an diesen Seminaren teil. Obwohl meine KursteilnehmerInnen (im Schnitt rund 60 Jahre) nicht gerade Linksradikale sind, war Christian, der von vornherein klarstellte, dass er Kommunist sei, besonders angesehen, wurde sehr gemocht. Neben dem quasi Auftrag, an einem Kursabend aus seinem Buch "Die Anfrage" vorzulesen und über die Rezeption zu sprechen, hatte die "Gruppe" auch das Privileg, seine unveröffentlichen Arbeiten zu hören. Darunter ein dem Kurs gewidmeter Text "Gab es Antisemitismus in der Politik der KPD in den zwanziger Jahren?"
Er wolle also, sagte mir Christian, nochmal in den VHS-Kurs kommen. Das war am 14. November letzten Jahres. Christian nahm von uns Abschied in einer ganz besonderen Weise: Er habe bisher alles selbst geschafft, jetzt aber "eine ganz neue Erfahrung" gemacht. "Ich finde heute, dass ich die wichtigsten Sachen in meinem Leben gar nicht selbst gemacht habe, man hat sie mir geschenkt. Eine tolle Erfahrung. Denn ich war immer der, der gedacht hat, wir sind auf uns alleine angewiesen, auch als Kommunist ... Und merkwürdigerweise: Während ich sozusagen verschwinde, ist die Verbindung mit dem ganzen Leben noch viel liebevoller, vielseitiger. Es geht mir jetzt sehr gut, der wirkliche Schmerz kommt erst noch. Ich will mich nicht darauf konzentrieren. Ich habe einen Arzt, der mir bestimmt über die Hürde hilft." (Auszug aus einem Video-Mitschnitt)
Vom Katholizismus zum Kommunismus
Zu diesem letzten Treffen mit Christian als Kursmitglied waren auch J. und U. eingeladen, die 1971 mit mir zusammen die Initiatoren die "Stadtteilgruppe Karolinenviertel" waren. Eine Gruppe, die auf rund ein Dutzend anwuchs und sich später größtenteils dem Kommunistischen Bund (KB) anschloss. Der Einstieg war eine Hausbesetzung im Hamburger Karolinenviertel. Irgendwann 1971 bekamen wir in unserem "Stadtteilbüro Karolinenviertel", einer ehemaligen Schlachterei, Besuch von Christian Geissler und Lothar Janßen, Autoren und Regisseure des Dokumentarfilms "Hamburg 6 - Karolinenviertel". Thema des Films war, dass Jugendliche, die im Knast landeten, in besonders hoher Anzahl aus dem Karolinenviertel stammen. Diesen Jugendlichen blieb weitgehend das Wort selbst überlassen. Der im NDR ausgestrahlte Film löste dennoch heftige Proteste der AnwohnerInnen aus. Vom Stadtteilbüro aus und über unsere Karolinenviertel Zeitung (KVZ) organisierten wir zusammen mit Christian eine Bürgerversammlung im Lokal "Feldeck" mit rund 250 TeilnehmerInnen. Nach wütendem Protest, dass "die anständigen Leute aus dem Viertel überhaupt nicht zur Sprache" gekommen seien, kamen die Versammelten dann doch noch zu sich selbst und den tatsächlichen Problemen: verkommene Wohnungen, kein Kindergarten, kein Platz für Jugendliche.
Hier begann allmählich meine fast vier Jahrzehnte währende Freundschaft mit Christian, in der das Politische und das Persönliche eine untrennbare Einheit bildeten. Im Sommer 1999 führten Christian und ich ein langes Gespräch über seinen "Eintritt in das achte Lebensjahrzehnt", das zu seinem Achtzigsten hätte fortgeführt werden sollen. (Die im folgenden gekürzte Fassung enthält etwa ein Viertel dieses Gesprächs.)
Christian ist 1928 geboren, ich 1943. Ein Unterschied von nur 15 Jahren. Aber, betont Christian (CG), "so kann man das nicht rechnen. Es sind - speziell in Deutschland - Jahre von besonderer Zerstörungskraft; Jahre von besonderem Lernen für jeden, der in dieser Zeit gelebt hat. Ich war Kind, 1943 war ich im Ernteeinsatz. 1943 war das auch, als die Leute mit dem Totenkopf mich gemustert haben wegen der blonden Haare. Ich habe bis 1943, damals war ich 14, nichts begriffen von dem, wo ich gelebt habe. Ich bin den Befehlen gefolgt, die man mir gegeben hat. Ich bin ein kleines Kerlchen gewesen, das überall mitgesprungen ist oder mitgeschwommen wie alle anderen auch. Was habe ich denn gelernt in dieser Zeit? Ja, Widersprüche doch. Meine Mutter kam aus Polen, und in unserer Verwandtschaft waren Juden. Und in der ganzen Gegend wurde gesagt, das seien Verbrecher und Untermenschen. Das waren sie ja nun für mich nicht. Kurz: Das ist ja auch ein Stück Lernen aus Erfahrung - sie lügen, sie schreiben mir Scheiße ins Schulbuch."
Christian hatte das Studium der evangelischen Theologie aufgenommen, war dann aber zum Katholizismus übergetreten. CG: "Nach Zeiten der Widersprüche wollte ich Sicherheit und Wahrheit und Ordnung und Schutz. Schutz habe ich gefunden, ganz sicher, in der katholischen Kirche. Es war die Unantastbarkeit der Sakramente, die mir in dieser Phase der Angst und des Schutzsuchens ein Angebot gemacht haben. Ich habe es mit Lust aufgenommen: Es gibt Unveränderbares, es gibt Unverletzliches, darauf war ich scharf wie ein armer Sünder auf die Rettung. Ich wollte, dass es ein paar Sachen gibt im Leben, die nicht zu vernichten sind. Die Suche nach 'ner Hand, die einen nie entlässt, das finde ich heute so grausam. Was hat man mit Leuten wie mir gemacht?!"
Woher kam dann deine Kraft, dich aus dieser scheinbaren Sicherheit herauszureißen? CG: "Von mir habe ich immer beim Nachdenken mit anderen gesagt: in dem was ich selbst gearbeitet habe. Und das war ja mit der ,Anfrage` und ,Kalte Zeiten` dann wirklich gegeben, ich bin in diesem altmodischen Sinne selbstbewusst und selbstbewusster geworden. Wusste was von eigenen Kräften. Das ist die Freude im Leben. Aber das ging noch nicht kommunistisch, das ging erst mal nur von eigenen Kräften. Und dann auch das Einsehen von Materiellem oder das Lernen im Materialismus. Das habe ich nach und nach verstanden. Also materialistisches Wissen plus eigene Arbeit machen mutiger, sich gegen den Vater oder gegen die Herrschaft zu richten."
Unbedingtes Vertrauen zur RAF
In den 1950er und 1960er Jahren gab es neben der Gruppe von Linkskatholiken, zu denen Christian gehörte, illegalisierte Kommunisten, auch Gewerkschafter und Sozialdemokraten, die im Unterschied zur großen Mehrheit der Bevölkerung das Lernen und Vorwärtsschreiten nicht aufgegeben hatten. CG: "Ich bin da selbst erstaunt, heute als alter Mann, wie guter Dinge wir waren. Es klingt so, wenn man das heute so sagt, als seien wir nicht ganz dicht gewesen. Wir hätten ja die Größenverhältnisse sehen müssen, in denen wir lebten. Aber wir waren der idealistischen Meinung, was genau gedacht und mitgeteilt wird, hat auch Wirkung in Richtung auf das Richtige."
Christians "Anfrage" war 1960 das erste in der BRD erschienene Buch, in dem die deutsche Schuld am Völkermord an den europäischen Juden thematisiert wurde. CG: "Es hat Lesungen gegeben, die waren erschütternd. Das wichtigste für mich war, dass es Kommunisten in Bewegung gesetzt hat, mich zu besuchen. Die wollten mir sagen, wie wichtig sie das Buch finden, und auch wie falsch. Nämlich hinsichtlich dieser moralischen Grundlinie in dem ganzen Buch. Und die Kommunisten haben Lust gehabt, mir was beizubringen: Du kannst es begreifen. Und dieses Zutrauen, dass wir unsere Lage begreifen, also auch ändern können. Da war ich gut versorgt mit den Typen."
Christian schloss sich der illegalen KPD an, obwohl er wusste, dass die Geschichte der KPD zum Teil auch eine Verbrechensgeschichte war. CG: "Nur war ich einer, der sagte, es gibt keine Wahl: Mit denen zusammen oder es geht nicht." 1968 ist Christian aus der Partei, damals schon DKP, ausgetreten. CG: "Die DKP war nur noch eine Auftragsorganisation, ein Planungsverein. Eine kämpfende Partei kommt von kämpfenden Menschen, aber nicht von irgendeiner Zentrale, die sagt, jetzt nennen wir uns mal anders und reden vorher mit dem Bonner Justizminister darüber, was wir nicht ins Programm schreiben."
Es gibt keine Befreiung ohne Bruch
Trennung von der katholischen Kirche, Mitglied der illegalen KPD, Parteiaustritt - die Suche nach Sicherheit blieb. CG: "Es ist dies aber auch die Suche nach Bestimmtheit. Und ich möchte genau hier die in meinem Leben wichtigste und entscheidendste Erfahrung, RAF nämlich, ranholen. Diese Ausdauer hat etwas damit zu tun, dass ich nicht loslassen wollte in Richtung auf Vereinzelung. Es droht in den Knästen die zerstörerische Vereinzelung. Und ich habe, das geht durch mein ganzes Leben hindurch, den erbärmlichen Wunsch gehabt, wir müssen zusammenhalten, sonst gehen wir unter, zerbricht unsere Arbeit gegen das Pack! Das muss auch mit dem Faschismus zu tun haben, denn wir waren ja so ohnmächtig damals als kleine Soldaten, weil wir Einzelne waren. Und ich glaube, diese elende Vereinzelung, diese Vereinzelung, die sich der Willkür aussetzt von Stärkeren oder von Bösen, könnte die Lernbedingung gewesen sein für mein - bis jetzt, bis zu meinem siebzigsten Jahr - unbedingtes Erpichtsein darauf, dass wir zusammenhalten. Mein Schreiben ist schon einzeln genug. Jeder politische Schritt, jede politische Hoffnung, unser politischer Kampf, das ist der kommunistische Kampf, das ist der Kampf um die Selbstaneignung des Menschen und das geht nur gemeinsam. Die Vereinzelung des Kommunisten ist die Vernichtung des Kommunisten."
Die Lernfähigkeit der RAF hatte Christian lange Zeit weitgehend falsch eingeschätzt. CG: "Ich war auch selber unter denen, die sogar noch das Frontpapier 1982 versucht haben zu verstehen und zu verteidigen. Das ist jetzt was ganz Subjektives. Ich habe zu der Zeit niemanden gehabt, denen ich so getraut habe wie den Genossinnen und den Genossen der RAF. Es war eine tiefe Sicherheit, ich wollte, dass die stimmt. Vertrauen, unbedingtes Vertrauen."
Seit Mitte der 1980er Jahre hatte Christian nicht mehr für das Fernsehen gearbeitet. CG: "Mir war das Bücherschreiben, die Prosaarbeit - Gedichte habe ich ja erst geschrieben, als ich fünfzig war - immer wichtiger als das Filmemachen, prinzipiell als mein Mittel. Nicht etwa als politisch wirksamer; es schien mir eigenartiger. Auch die Selbstständigkeit in der Prosa hat mir natürlich gefallen, denn alle Fernseharbeit war auch abhängig vom Absegnen höherer Stellen. Ich habe mich für Jahre verzogen für ,kamalatta'. Leben konnte ich davon nicht. Da habe ich mir aber gesagt, jetzt machst du nur noch, was du für richtig hältst, lebst von ganz, ganz wenig Geld - also sind wir (CG und seine Ehefrau, Sabine Peters, Romanautorin und Publizistin; Anm. KM) aufs Land gezogen - und verdiene nur so viel, wie unbedingt nötig neben der eigentlichen Romanarbeit oder Dichtung. Ich will meine gezählten Tage mit Arbeit nicht nur beenden, sondern vor allem auch füllen. "
Die Edition Nautilus publizierte Christians Arbeiten aus den Jahren 1989 bis 1992 unter dem Titel "Prozess im Bruch". CG: "Der Begriff des ,Bruchs` in meinem Leben ist sehr zentral, mir ist er auch problematisch. An diesem Begriff hängt eine ganz tiefe Qualität von Unglück geliebter Menschen. Ich glaube auch, dass meine Produktion gar nicht anders gegangen wäre, als immer wieder zu brechen. Man kann, gerade wenn wir hier als Revolutionäre sitzen, sagen: Ja, es gibt überhaupt keine Revolution, die nicht verletzt; es gibt keinen Schritt, der nicht anderes verlässt; es gibt keine Befreiung ohne Bruch. Aber wenn man sich die Gesichter vor Augen holt, kann man ziemlich bange werden. Woher nimmst du dieses Selbstzutrauen? Ich sage dann, ich nehme mir das daher, weil ich ohne vorwärts zu kommen und zu produzieren gar nicht leben kann. Also ist es für mein Leben getan, und wenn etwas für mein Leben getan ist und andere leiden daran. Ich habe jetzt oftmals das Bedürfnis, mich zu rechtfertigen, kann aber nicht. Ich weiß nur genau, ich würde selber keinen Schritt meiner Produktion und auch keinen Bruch zurücknehmen wollen. Aber ich finde es sehr traurig, sehr, sehr traurig, dass der Prozess, der über Brüche geht und nicht anders gehen kann, lebendige Leute verletzt, die mir persönlich wichtig sind. Es bleiben Erfahrungen, die ich nicht lösen kann. Sagen muss man es mal: Wir sind wirklich keine Helden, nicht nur ich bin keiner."
Besuche bei Christian, von denen, wie ich fürchtete, jeder der letzte sein konnte. Im Juni aber das gewohnte Ritual mit Tee und Kluntjes im Innenhof und ein sehr sanfter und fast heiterer Christian. Der Lungentumor war besiegt, könne zwar wieder ausbrechen, aber ... im Herbst wolle er nochmals "die Gruppe" besuchen. Eine Woche später kam es nur noch zur Teilnahme an einer Lesung von Karl-Heinz Dellwos Buch "Das Projektil sind wir".
Mitte Juli die schockierende Nachricht, dass Metastasen Christians Gehirn angegriffen haben. Am 26. August entschied Christian, sein Leiden zu beenden.
Klaus Mellenthin
Die vollständige Fassung des Gesprächs erschien in ak 421und 422, Oktober/November 1999. Die Überschrift "Er war ein Geschenk" stammt aus dem Nachruf von Sabine Peters-Geissler.
Oliver Tolmein
Nachruf auf einen Eigensinnigen
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http://www.tolmein.de/kultur,24,Nachruf-christian-Geissler.html
Der Schriftsteller Christian Geissler ist gestorben
Christian Geissler war einer der im deutschen Literaturauftrieb nicht aufging, sondern ihm fremd blieb. Sein Engagement vertrug sich nicht, mit der üblichen Geschäftigkeit. Er schrieb über Klassenkampf und Gewalt, über die Vernichtung der europäischen Juden und den Nationalsozialismus in einer kargen, rythmisierten und manchmal schroffen Sprache, die manchmal verschlüsselt wirkte, aber eigene Perspektiven eröffnete. Weder "kamalatta" noch "Anfrage", auch kein anderer Roman und keiner seiner Gedichtbände sind heute noch über den Buchhandel erhältlich.
Christian Geissler, der am Dienstag in Hamburg 79jährig nach schwerer Krankheit gestorben ist, war im oft geschäftigen deutschen Literaturbetrieb ein eigensinniger Fremder. Lange Jahre lebte er, der gebürtige Hamburger, zusammen mit seiner Lebensgefährtin, der Schriftstellerin Sabine Peters, abgeschieden im ostfriesischen Rheiderland in einer kleinen, karg ausgestatteten Kate. Ein Feldbett, ein runder Tisch mit Tee, ein Arbeitsplatz - viel mehr gab es dort nicht. Hier, in dieser Landschaft, der er sich so verbunden fühlte, wird Christian Geissler auch nächste Woche beerdigt werden. Hinter seinen Namen setzte er seit vielen Jahren in Klammern ein kleines K: Christian Geissler (k) prangt auch auf den Buchtiteln, die nach 1989 (meist bei Rotbuch, manche bei Nautilus) erschienen sind. Ihm kam es darauf an sichtbar zu machen, dass er Kommunist ist - und er blieb es allen Widrigkeiten und dem Auseinanderbrechen der Sowjetunion zum Trotz, ja vielleicht sogar deswegen bis zuletzt.
Kommunist sein, das hieß für ihn, den ehemaligen Flakhelfer, der in den Sechziger Jahren Mitglied der illegalen KPD wurde und der bald darauf wieder austrat, weil er die Gründung der legalen DKP und deren Politik für einen Irrweg hielt, Stellung beziehen. Damit hat er sich nicht nur Freunde gemacht. Für die DKP war er lange Zeit persona non grata. Er versicherte sich aber auch immer wieder seines eigenen Weges - am liebsten im Gespräch, denn Vereinzelung war das, was er, der zurückgezogen, mit Vehemenz und großer Genauigkeit an seinen Texten arbeitete, auf keinen Fall wollte. Auch Selbstzweifeln an der eigenen Arbeit als Schriftsteller und Intelektueller plagten ihn, weil, wie er in einem Interview mit "konkret" feststellte, mit einer Erzählung und einem Gedicht ein feindlicher Flottenverband nicht aufzuhalten sei. Deswegen unterbrach er gelegentlich seine literarische Arbeit und setzte sich daran andere Texte zu schreiben, Verständigungstexte, Klärungen, kamalatta-Schriften: ""Dissonanzen der Klärung" entstanden so und "Prozess im Bruch". So klar und kompromißlos Geissler seinen politischen Standort bestimmte, so wenig Interesse er an Harmonie und schönem Schein hatte, so sehr war er an Menschen und ihren Geschichten interessiert. Er hörte leidenschaftlich gerne zu – und er schrieb auch, weil er sich wünschte, dass seine Texte andere ermutigen könnten zu reden und dabei ihre eigene Sprache zu sprechen.
Sein in dieser Hinsicht eindringlichstes Projekt war das 1988 erschienene „kamalatta.ein romantisches fragment“, ein Roman, in dessen Zentrum ein fiktiver Anschlag der RAF stand. Anders als andere Autoren distanzierte sich Geissler aber nicht von den Anschlägen und der Gruppe, er reflektiert in dem Buch vielmehr die Rolle des mit der RAF verbundenen Intelektuellen durch sein Alter Ego Proff, dessen Arbeit für einen Fernsehfilm mit den Anschlagsplanungen verwoben ist. Nach Abschluss seiner Arbeit an dem Buch reiste Geissler durch die Justizvollzugsanstalten der Republik, um in dieser gesellschaftlichen Umbruchphase mit den inhaftierten RAF-Gefangenen zu sprechen. Sein Ziel war eine Arbeits-Korrespondenz innerhalb der Linken, zwischen den Gefangenen, den legal und illegal agierenden Gruppen, zu initiieren – den literarischen Text „kamalatta“, für dessen Titel Geissler auf ein Hölderlin-Zitat zurückgriff, war er dabei bereit für dessen politischen Gebrauchswert zurückzustellen: „Ich bin ganz bereit, das Buch zu einem Nutzgegenstand zu machen, beim Auslösen unserer Sprache. Denn das ist mir das Allerunheimlichste in den letzten Jahren: dies Verstummen und diese Neigung, nur noch fertige Sätze rauszulassen, Behauptungen.“ Das Scheitern dieses Projektes - von Geissler jahrelang betriebenen Versuchs - einer grundlegenden, linken Auseinandersetzung über die Anschläge, Attentate und die politischen Vorstellungen aus denen heruas sie verübt wurden, hat der gelegentlich mit Peter Weiss`“Ästhetik des Widerstands“ verglichene literarische durch eine stark rythmisierte, assoziationsreiche Sprache geprägte Text „kamalatta“, wie sich beim erneuten Lesen sofort herausstellt, allerdings überlebt, weil er – auch wenn das damals von der Kritik und der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen wurde – von weitaus mehr handelt, als von den internen Auseinandersetzungen und den politischen Plänen einer klandestinen Gruppe.
Andere Arbeiten von Geissler haben weniger öffentliche (und oftmals empörte) Aufmerksamkeit erfahren. In anderen Texten zeigt sich Geissler auch anders, leichter, wenngleich auch nicht gefälliger: Die Nashornlieder fallen mir hier beispielsweise ein, die er 1990 auf Aufforderung einer Bremer Sonderschulklasse geschrieben hat und deren erstes tonangebend für die widerständigen, aber heiteren Texte ist: „das nashorn mit flügeln/ das wollte nicht bügeln/es reckt seine glieder/und jetzt singt es lieder.“
Mit einem seiner letzten Texte, dem als Heft der Zeitschrift „Die Aktion“ veröffentlichten „In den Zwillingsgassen des Bruno Schulz“, kehrte Geissler, der nach einem Studium der evangelischen Theologie Anfang der Fünfziger Jahre zum Katholizismus konvertiert war und den eine Freundschaft mit Heinrich Böll verband, zu einem seiner schon früh seine Bücher beherrschenden Themen zurück, der Ermordung der europäischen Juden während des Nationalsozialismus.
Zusammen mit seinem Sohn, dem Dokumentarfilmer Benjamin Geissler, hatte er sich 2001 erfolgreich auf die Suche nach verschollenen Wandfresken des polnisch-jüdischen Autors und Zeichners Bruno Schulz gemacht, der 1942 von einem Gestapo-Angehörigen ermordet worden war. Sein letztes Buch, auch in seine Kindheit zurückführendes Buch, das den Arbeitstitel „der schwarze Hund“ trägt, konnte Christian Geissler nicht mehr abschließen. Aber auch seine bereits erschienen Romane und Gedichtbände sind derzeit nicht im Buchhandel zu haben. Die neuen Eigentümer Rotbuch Verlages, der die meisten seiner Arbeiten veröffentlicht hatte, führen ihn nicht einmal mehr in der Autorenliste des Verlages. Allein der Nautilus-Verlag führt die bei ihm veröffentlichten, eher essayistischen Texte, noch in seinem Verlagsprogramm.
Nachruf RZ Rheiderland-Zeitung, 29.08.2008
www.rheiderland.de
Freitag: Die Ost-West-Wochenzeitung 36
05.09.2008
Direktlink zum Artikel:
http://www.freitag.de/2008/36/08361602.php
Detlev Grumbach
Anfragen
NACHRUF
Zum Tod von Christian Geissler (1928-2008)
Am Anfang seines literarischen Schreibens stand eine Anfrage. Der 1960 erschienene Roman fragt nach der Verantwortung der Väter im Nationalsozialismus, als erster auch nach der Beteiligung an der Vernichtung der Juden. "Wo war Ihr Herr Vater am 9. November 1938, nachts?" - in dieser Präzision geht der Protagonist dem Schicksal einer jüdischen Familie in Frankfurt und der Rolle ganz normaler Nachbarn in der Reichspogromnacht nach. Das Buch traf einen Nerv, denn im Wirtschaftswunderland Bundesrepublik waren viele dabei, sich in einer als "Kollektivschuld" getarnten "Unschuld" einzurichten. 2001 hat Christian Geissler zuletzt Aufmerksamkeit erregt, als er mit seinem Sohn, dem Dokumentarfilmer Benjamin Geissler, im ehemals polnischen Drohobycz die verschollenen Wandfresken des von den Nazis ermordeten jüdischen Malers und Schriftstellers Bruno Schulz wiederentdeckt hat (Freitag 12/01). Die Verfolgung und Vernichtung der Juden war das bestimmende Thema seines Lebens.
Geboren im Dezember 1928, war er gerade alt genug, um noch als Flak-Helfer eingezogen zu werden. Sein Vater war Bauunternehmer in Hamburg, Nationalsozialist, er überlebte den Krieg nicht. Seine Mutter stammte aus einer bürgerlichen, polnischen Familie. Geissler wurde Mitglied der Hitler-Jugend und sah das Leid, wenn jüdische Freunde der Mutter aus Deutschland fliehen mussten oder Menschen abgeholt wurden. In diesem Erleben wurzelt die Anfrage, darauf kommt er in letzten, nicht mehr veröffentlichten Arbeiten zurück. Die Antworten führen den Autor zunächst in den linkskatholischen Kreis um die Werkhefte katholischer Laien, dann in die Ostermarschbewegung, die illegale KPD und in den siebziger Jahren in die Nähe der RAF. Sein als Romantisches Fragment untertitelter, in Anspielung auf Hölderlin kamalatta genannter Roman, einer der wichtigsten politischen Romane der Bundesrepublik dieser Zeit, erzählt von den politischen Kämpfen der siebziger Jahre. Politische Gewalt als Ultima Ratio gegen ein gewalttätiges System ist nicht das Credo dieses vielstimmigen, diskursiven Romans, wird aber als ernste Frage diskutiert. Und die Rolle des Intellektuellen, der immer etwas abseits steht und doch mitten drin sein will.
Als Dokumentarfilmer und Autor richtete Geissler seit den sechziger Jahren seine Anfragen an die eigene Generation, an eine Gesellschaft, in der wieder Menschen bedrängt, verfolgt oder sogar getötet werden: Kalte Zeiten, sein zweiter Roman, erzählt, wie ein junger Arbeiter unter dem Zwang, beim Wirtschaftswunder, unter dem Konkurrenzdruck, mithalten zu müssen, sich selbst und die Liebe zu seiner Frau buchstäblich verkauft, am Ende verstummt. Gewaltverhältnisse. Kaufen und verkauft werden. In seinem letzten Buch, Ein Kind essen, rackert sich ein junges Paar in seiner Autowerkstatt für einen Bankkredit ab. Der kleine Sohn verreckt dabei - in Ausdünstungen von Lack und Benzin. Gegen solche Verhältnisse setzt Geissler in seinem Spätwerk "den Unsinn der Liebe": "Alles Böse hat Sinn, der einzige Unsinn ist die Liebe, so ist sie unverlierbar."
So unnachgiebig und hart Geissler in politischen Debatten sein konnte, so offen und interessiert an anderen Menschen, so zart, liebevoll war er im persönlichen Umgang, so zerbrechlich wirkte er beinah. "Die Liebe zum Leben" hat ihn zum Kommunisten werden lassen. Nach der Zeitenwende 1989 fügt er seinem Autorennamen ein "(k)" hinzu, als Zeichen, dass er es blieb. Auf der einen Seite die Ohnmacht, gegen die Macht der Verhältnisse nichts ausrichten zu können. Auf der anderen Seite dieses Festhalten daran, als Individuum frei und verantwortlich zu sein, der Traum davon, dass die Befreiung des Menschen doch noch gelingen kann. Gewalt, Verstummen, das Ringen um Worte, Sprechen - das sind Motiv und Kern seiner literarischen Arbeit. Seine Sprache widersteht dem Eingängigen, öffnet neue, poetische Räume, fordert eine Haltung heraus. Der Skandal: Nur ein einziges seiner Bücher ist noch lieferbar. Christian Geissler starb fast 80-jährig am 26. August 2008 in Hamburg.
In Memoriam Christian Geissler
Christian Geissler ist gestorben, wenige Monate vor seinem 80. Geburtstag. Viele wollten von ihm nichts mehr hören. Zu unzeitgemäß war seine Unversöhnlichkeit gegenüber den herrschenden Verhältnissen. Zu sperrig seine Sprache. Zu scheu seine Liebe zum Leben.
Wir haben in Christian einen Freund und Genossen verloren. Und einen der wichtigsten deutschen Nachkriegsschriftsteller. Sein Werk wird bleiben – und wieder entdeckt werden. Von Lesern und Leserinnen, die wie er „den Weg ins Freie“ suchen.
Christian Geissler schrieb im Filmtext für den „Pannwitzblick“:
[Kommentar. (Auf den Gang der Füße mit Schatten]:
die reibung gegen die reihung
die lust gegen linie und zahl
die entscheidung
ich gehe
den kampf der schritte
den flug der schatten
ohne kommando
den weg
meinen
es geht es geht
was DU nicht gehst.
es geht es geht
was du NICHT gehst
es geht frei aus!
Wir werden Christian Geissler nicht vergessen. Und nicht den Gang ins Freie, ohne Kommando, unseren.
Für den Verlag Assoziation A
Theo Bruns
Assoziation A, Büro Hamburg
c/o Brücke 4
Amandastraße 60
20357 Hamburg
Tel.: 040-80609208
hamburg@assoziation-a.de
Gegen den Wind gebissen
Christian Geissler zum siebzigsten Geburtstag
von Detlef Grumbach
Direktlink zum Artikel:
http://www.detlef-grumbach.de/geissler.html
Freitag, Ausgabe 52/1998
Flach zieht sich das Land zu beiden Seiten des Deichs Richtung Horizont, nur ein paar Häuser liegen in der Nachbarschaft. Seine kleine Kate, geduckt hinterm Deich gelegen, nur ein paar Meter vom Kanal, sucht Schutz vor dem Wind, der vom Dollart herüber bläst. Bis Ende der siebziger Jahre hatte Christian Geissler in Hamburg und in der näheren Umgebung, an der Elbe, nahe der Grenze zur DDR. Später hielt er sich dann in Südfrankreich, Schottland und Portugal auf. Heute lebt er im ostfriesischen Rheiderland. Dorthin hat Geissler sich zurückgezogen, von hier bricht er auf zu seinen Erkundungen nach Polen (dem Land seiner Mutter), zu Besuchen bei seinen Kindern, Freunden und Genossen, zu Aufenthalten in Frankreich, Portugal, mischt er sich ein.
Im ersten der drei kleinen Durchgangszimmer stolpern Besucher über einen alten Metallkoffer. "Geissler" wurde vor vielen Jahren mit einem Pinsel darauf geschrieben. Vielleicht dient er nur als Fußbank, vielleicht enthält er aber auch das Nötigste für einen schnellen Aufbruch.
"Klopfzeichen" hat Christian Geissler das im Herbst erschienene Bändchen genannt, in dem er Gedichte aus den Jahren 1983 bis 1997 versammelt hat, "Klopfzeichen eines Kammersängers":
"was für ein volk
so fleißig
schmatzt es die schmiere
vom schönen Tod
die lüge von oben"
Aus Portugal, dem Land, das einst für die Hoffnungen der Nelkenrevolution stand und heute Teil des weißen Hauses kapitalistischer Herrschaft ist, schreibt Geissler "lieder für zuhaus":
"da ist ein alter mann
umbaumelt von apfelsinen
im rätsel der fremden sprache
unterm hieb der sonne
im weißen haus
fast verstummt.
er sehnt sich nachhaus
ins regenplatschen
ins ofenbullern
ins gänsegeschrei überm tee.
Die heimat hat zwei große augen.
Das ist rätsel genug."
"Du bist nicht zu Hause" bedeutet ihm der Klang der fremden Sprache in seinen Ohren. Doch nicht die Sprache bedroht ihn, sondern die Wirklichkeit. Die "Hochhauskultur des schnellen Geldes" und die "Macht einer falschen Berechnung" haben auch sein beinahe idyllisches Refugium schon durchdrungen. Der Text klingt resignativ, melancholisch, aber es spricht auch die Sehnsucht. Klopfzeichen eines Gefangenen nach draußen?
Am 25. Dezember wird Christian Geissler 70 Jahre alt. Geboren wurde er 1928 als Sohn eines deutschen Bauunternehmers und NSDAP-Mannes und einer polnischen Mutter in Hamburg. Er wurde in die Hitler-Jugend geschickt und erlebte, wie jüdische Freunde der Mutter aus Deutschland flohen, wie die jüdische Schule in der Nachbarschaft geschlossen wurde und Menschen verschwanden. In den letzten Kriegsmonaten wurde er noch als Flak-Helfer eingezogen. Nach dem Krieg kamen dann bohrenden Fragen an die Generation der Väter und Konsequenzen für das eigene Leben: 1960 erschien sein erster Roman - "Anfrage". Es folgten Arbeiten für den Rundfunk und das Fernsehen, ein weiterer Roman. 1967 trat er in die illegale KPD ein, verließ die Partei wieder, als die DKP gegründet und aufs Grundgesetz verpflichtet wurde und geriet zu Beginn der siebziger Jahre ins Umfeld der "Rote Armee Fraktion". Die Romane "Das Brot mit der Feile", "Wird Zeit, daß wir leben" und "kamalatta" rücken die Frage der politischen Gewalt in den Mittelpunkt. Die Gedichtbände "Im Vorfeld einer Schußverletzung" und "spiel auf ungeheuer" spitzen sie zu im Fokus des Individuums.
"wieso gedichte
aber der stein im maul
gegen den wind gebissen
glasaugenblick
nicht feld und wald mehr
nicht keller und kammer
für lange Geschichten
suche nach worten"
In seiner zuletzt erschienenen Erzählung, dem als "Kinderlied" bezeichneten Text "Wildwechsel mit Gleisanschluß", läßt Geissler die Erfahrungen seines Lebens in dichten, poetischen Bildern ineinander stürzen. Nach der Niederlage des Sozialismus und den Erwachen einer neuen deutschen Großmannssucht beschwört er in einer geheimnisvoll verschlüsselten und sehr rythmischen Sprache, in beinahe unzugänglich formulierten Alpträumen das Wüten der Deutschen in Polen, die Gefahr eines neuen Faschismus, des Kriegs der Festung Europa gegen fremde Eindringlinge, gegen die Kinder Welt, die etwas zu Essen brauchen. Das Buch sei geprägt von der wirklichen "Gefahr, daß die Sprache wegbleiben wird angesichts der Schweinereien," erklärt er. Er versteht es als existentiellen Versuch, "wirklich Wort für Wort am Leben zu bleiben über das gearbeitete Wort." Der Text wirkt unheimlich, führt Autor und Leser auf einen schmalen Grat zwischen der Liebe zum Leben und Apokalypse. Düstere Bilder von Bedrohung und Kampf, Erfolg, Mißerfolg und - am Ende - von einem übermächtigen Gegner. Viet, das alter ego des Autors, knüpft ein Netz des Widerstands, hält Verbindung zu alten Genossen aus dem antifaschistischen Kampf, steht aber mit dem Rücken an der Wand: Mit seinem Haß, seiner Angst, seiner Liebe.
Sei erster Roman, erschienen 1960, erzählt von dem jungen Studenten Köhler, der wissen will, was mit einer jüdischen Familie während der Nazi-Zeit geschehen ist und warum es geschehen konnte. Die "Väter" seiner Generation stehlen sich aus der Verantwortung, seine "Anfrage" - so der Titel - stößt auf eine Mauer des Schweigens.
In der folgenden Erzählung "Kalte Zeiten" beobachtet Christian Geissler den jungen Bauarbeiter Jan Ahlers und seine Frau Renate an einem Freitag, an dem der Lohn ausgezahlt wird. Die beiden haben eine kleine Werkswohnung im Hamburger Arbeiterstadtteil Wilhelmsburg. Renate ist schwanger, und beide träumen von ihrem Glück. Dieses Glück ist teuer. Der Kinderwagen - "der blaue, zum Zusammenklappen, wie nebenan der" - kostet 200 Mark. Aber der soll es schon sein, man will Schritt halten ja mit Wirtschaftswunder und Nachbarn. Ahlers wird vom Chef geködert und läßt sich gegen die Kollegen ausspielen. Abends fährt er - in Gedanken an den Kinderwagen - noch eine Extra-Tour für den Chef. Geisslers Art zu erzählen - "nicht frei erfunden" - erinnert an die Techniken des Films: Kamerafahrt, Totale, Fokus und harte Schnitte. Er zeigt zwei Menschen, die auf Konsum und Konkurrenz eingeschworen werden, denen ihre Traum vom Glück für ein paar Mark abgekauft wird und die dabei sich selbst und alles verraten, was sie wirklich besitzen: ihre Selbstachtung, ihr Vertrauen zueinander, auf die eigene Kraft. Jan kehrt spät nach Hause zurück, denkt, daß Renate schon schläft, legt noch eine Schallplatte auf - "ihr" gemeinsames Lied. Renate kommt herein:
"Er freute sich, aber er sagte: Ich denk, du schläfst.
Mach nochmal an, sagte sie.
Er wollte hingehen, blieb stehen, sah sie an. Die sieht schön aus.
Ist was, fragte sie.
Er freute sich, aber er sagte: Zieh dir was über, wirst bloß krank.
Sie zögerte, wollte zu ihm gehen, ging zurück ins Schlafzimmer, zog die Tür hinter sich zu. Er wollte noch etwas sagen, aber er konnte nicht reden, war stumm, als läge ein Stein auf seinem Mund."
"Ich habe die ersten beiden Bücher allein geschrieben", sagt Geissler heute, "auch im Gefühl der Isolation gegenüber einer deutschen Literatur, die nicht meine war." Ahlers verstummt, und Verstummen bedeutet Niederlage. Die Suche nach Worten bedeutet Leben, Kampf um das bißchen Glück, für eine gerechtere Welt. Und als ob der Autor sich bei Ahlers, bei Karl Kasten, Henning Specht und Tim Scott, bei Robert Beck, dem alten Genossen, der noch gegen die Nazis gekämpft hat, und all den anderen einfach unterhakt und mit ihnen zusammen in eine neue Zeit marschiert, erzählt er acht Jahre später in "Das Brot mit der Feile" und den folgenden Romanen von ihrem Weg durch die sechziger und siebziger Jahre: "Von da an habe ich als Kommunist geschrieben. Ich bin der Kommunistischen Partei beigetreten, wußte ja wohl auch, warum, hatte mich also in einer bestimmten Weise entwickelt. Von da an war das "wir" wichtig für mich. Es war so richtig, in "wir" zu denken und auch zu schreiben, daß die folgenden Bücher diesen Atem bekommen haben: Ich bin gar nicht allein. Wir überlegen uns jetzt, wo wir eigentlich sind und was wir wollen?"
Er gibt seinen Figuren eine persönliche Geschichte. In dem Roman "Wird Zeit, das wir Leben" erzählt er dann von der Aktion eines sozialdemokratischen Polizisten, der in Hamburg 1933/34 versucht, politische Gefangene zu befreien. So verknüpft er die aktuellen Diskussionen um bewaffneten Kampf und Widerstand gegen den Staat mit dem antifaschistischen Kampf, zieht von dort die historische Linie zur RAF und mischt sich ein in die laufenden Debatten.
Schon in "Das Brot mit der Feile" tritt Proff auf. In Gestalt seines Alter ego gerät der Autor langsam aber sicher vom Rand her ins Zentrum des Geschehens, lotet er seinen eigenen Standpunkt aus. In einem Akt spontaner Gewalt beginnt Proff, sich bei Filmaufnahmen in Mexiko gegen die Herrschaft und Unterdrückung zu wehren und gerät in die Mühlen amerikanischer Agenten. Als er später nach Hamburg zurückkehrt, ist auch er erst einmal stumm.
Die Frage nach der Berechtigung von politischer Gewalt stellt sich Christian Geissler im Folgenden nicht, weil die Gewalt war ja schon da ist - auf Seiten des Eigentums, der Kriegstreiber, der modernen Kolonialisten. Für ihn ist nur bedeutsam, wie man sich gegen diese Gewalt wehren kann - und welche Rolle die eigene Gewalt dabei notfalls spielt.
In dem Roman "kamalatta", der 1988 erscheint und die Arbeit der RAF ins Zentrum rückt, spitzt Geissler diese Frage zu, radikalisiert sich auch seine Sprache. Sie wird freier, assoziativer, stärker vom Rhythmus getragen und mit der Sprache der "Ästhetik des Widerstands" von Peter Weiss verglichen: eine Sprache des Diskurses, die den Leser in die Konflikte hinein zwingt. Er zeigt die Arbeit von alten und jungen Kommunisten, die Bedingungen des illegalen Lebens im Untergrund, den Knast und die Vorbereitung eines Anschlags. Anstoß für Proff, seine Sprache wiederzufinden und sich der Gruppe anzuschließen, ist die Befreiung Andreas Baaders aus der Haft:
"mensch guck dir das an, in berlin haben sie gestern einen rausgeschossen aus all dem knast und gesetze, beim bücherlesen, weil wissen ist macht, na bitte, das fühlt sich gut an, ogottmann, wie sich das fühlt. verlodern der brücken das mein sprung.
wer war das. ich denk du bist stumm.
stumm auf die dauer macht dumm.
mach kein gedicht, mein freund. du stehst hier noch immer im regen. und nachts. und gesprungen sind die. und wir nicht."
Proff will auch springen. Mit einem Schlag will Proff den Feind enthaupten. Unter dem Deckmantel seiner journalistischen Arbeit bereitet er einen Anschlag auf die Militärakademie in Bad Tölz vor: Gewalt gegen Gewalt. Tote gegen Tote. Ein blutiger Krieg nicht in fernen Landen, sondern im Zentrum der Herrschaft. Ein Plan, der erschrecken muß, und doch einer, der seine Wurzeln in der Übermacht des Gegners hat, in politischer Einschätzung und persönlicher Erfahrung.
"so kann, was in allen deutschen ausgaben, die ich kenne, heißt: der schlaf der vernunft weckt ungeheuer - auch heißen: der traum von der vernunft weckt ungeheuer", stellt Christian Geissler im November 1990 in Anspielung auf Francesco de Goya fest: "aus der französischen revolution und den ersten jahren der spanischen guerilla-kämpfe gegen napoleons besatzungstruppen hatte goya anlaß für beide gedankengänge.
und wir, hier heute, aus unserer neuesten geschichte auch." Nach den Erfahrungen der Stalinismus und nach dem sinnlosen Töten der RAF mahnt Geissler: "wir haben nie wieder den traum von unserer befreiung zu träumen, ohne die ungeheuer auch.
aber desweiteren nie haben wir die ungeheuer zu nennen, ohne den traum von unserer befreiung auch. nein. wir sind nicht zu retten.
aber wehe denen, die aufhören, unsere rettung zu suchen, an ihr zu arbeiten, um sie zu kämpfen. (...) es bleibt der schmerz."
Nach der historischen Niederlage der Linken bezeichnet sich Geissler nach wie vor als Kommunist. Die Erfahrung der Ohnmacht, die zusammenfällt mit dem Altern, bedroht ihn existentiell. "In manchen Märchen helfen Tiere den Menschen voran, auf Wolken durch einen Tunnel über den See", erzählt er in "Wildwechsel mit Gleisanschluß", "es ist aufgepaßt worden, es wird geplaudert." Die existentielle Gefahr des Verstummens und das Ringen um Worte sprechen dagegen aus den jüngsten Texten Geisslers, hinterlassen ihre Spuren in der Bearbeitung des Materials: "Wir haben fast keine Sprache", heißt es im Anschluß an die zitierte Stelle, ein andermal: "Jemand könnte mir einen Stein hinlegen und sagen, davor erfinde Worte. Ich habe keine Worte." Und jetzt also "Klopfzeichen" als Ausdruck des Widerstands, des nicht Aufgebens:
"der schwarze hut
die wolke weiß
das grauen
alt
das trauert
licht
woher das licht?
ist arbeit."
Andere Texte kreisen, wie schon "Wildwechsel mit Gleisanschluß", um den Mord an den polnischen Juden, um die Hatz auf Terroristen noch heute (Bad Kleinen), tasten sich heran an Alter und Tod, an letzte Erfahrungen. Eine Homage ans Rheiderland findet sich in dem Bändchen genauso wie die Zyklen "Nachtschatten", "Meine Schwester ist gestorben", "böses geflüster" oder "nashornlieder":
"das auge hell
die waffe frei auf der nasen
der tanz geht schnell
so oft sie zum angriff blasen".
"Ich werde demnächst siebzig", erklärt er Geissler: "Das ist eine ungünstige Kombination. Die einen, die ich immer noch zu Recht die Schweine nenne, siegen in einem Moment, wo ich selber ein alter Mann geworden bin. Die können mich nicht fertigmachen, aber diese Kombination verschärft die Ohnmachtserfahrung natürlich. Aber ich bin noch nicht am Ende. Ich arbeite ja am nächsten Buch."
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