Karl-Heinz Dellwo war Mitglied des RAF-Kommandos, das 1975 bei der Besetzung der Deutsche Botschaft in Stockholm zwei Geiseln tötete. Heute ist er einer der wenigen Ex-Terroristen, die sich öffentlich äußern; in diesen Tagen erscheint seine Autobiographie. Die Gewalt der RAF sei "völlig überzogen" gewesen, sagt Dellwo im Interview mit einestages. Die Forderung nach Zeichen von Reue lehnt er ab.
einestages: Herr Dellwo, als Sie sich Anfang 1975 der RAF anschlossen, saß die komplette ersten Generation der Gruppe schon im Gefängnis. War es nicht offenkundig, dass die RAF gescheitert war?
Dellwo: Alles, was neu auftritt, so sah ich es damals, ist zunächst mit der Gefahr des Scheiterns behaftet. Außerdem waren die RAF-Gefangenen, obwohl wir sie gar nicht persönlich kannten, für uns wie die nächsten Angehörigen. Wir wollten sie unbedingt aus dem Gefängnis holen. Es sollte weitergehen.
einestages: Und wie sehen Sie es heute?
Dellwo:Die RAF ist nicht an der Polizei gescheitert, sondern daran, dass ihr revolutionärer Wille nicht der Situation der Zeit entsprach. Politisch vermitteln konnte die RAF ihre Aktionen gegen den verbrecherischen Krieg in Vietnam, der auch von hier aus geführt wurde. Ansonsten blieb die RAF bei der Kritik des Staates hängen. Wir waren nicht in der Lage, den Riss zwischen Staat und Gesellschaft zu vertiefen und ebenso wenig, die grundlegenden Widersprüche des Kapitalismus voranzutreiben. So ging es allerdings der gesamten Linken.
einestages: Als die RAF 1970 gegründet wurde, existierte in der Bundesrepublik nicht ansatzweise eine revolutionäre Situation. Basierte die RAF deshalb nicht auf einer grotesken Fehleinschätzung?
Dellwo:Die RAF bezog sich nicht nur auf die BRD, sondern hatte ihren Kampf im internationalen Zusammenhang bestimmt. Als Che Guevara 1966 nach Bolivien ging, unterlag er auch einer Fehleinschätzung. Aber er sagte: "Für einen Revolutionär ist die Situation immer reif." Wir haben nicht sehen wollen, dass es nur zur Revolte, nicht aber zur Revolution reicht. Der Wunsch nach Befreiung war zu mächtig.
einestages: Was verstanden Sie unter Befreiung?
Dellwo: Die Befreiung vom kapitalistischen System weltweit, das auf der Ungleichheit der Menschen basiert. Alle Menschen sollten Subjekt ihrer eigenen Geschichte werden können.
einestages: Wie alt waren Sie, als Sie sich der RAF anschlossen?
Dellwo: Ich war 22 und konnte mir überhaupt nicht vorstellen, mich in die Gesellschaft zu integrieren. Wir haben den Zugriff der kapitalistischen Verhältnisse auf den Menschen besonders gespürt und uns deswegen auch so entschieden existentiell gewehrt. Wenn man auf die deutsche Geschichte zurückblickte und sah, wie viele Nazis wieder in Amt und Würden waren, da konnte man nur schreiend weglaufen.
einestages: Man musste aber nicht gleich zur RAF gehen.
Dellwo: Alles außerhalb der RAF lief auf Integration ins System hinaus, ich wollte aber außerhalb bleiben. Von daher fand ich die Parole "Zwischen uns und dem Feind einen klaren Trennungsstrich ziehen" ungeheuer anziehend. Und ich wollte dem Staat eine deutliche Niederlage beibringen. Das würde, dachte ich, all den Linken wieder Mut geben; allen, die mal gesagt hatten, sie wollten eine Revolution.
einestages: Sie hatten wegen einer Hausbesetzung bereits ein Jahr im Gefängnis gesessen.
Dellwo: Ja, und in der ersten Nacht in der versifften Zelle dachte ich mir: Diese Hausbesetzung war nur Spielerei. Wir hatten gar keine Chance. Wir brauchen eine ganz andere Macht.
einestages: Sie haben an die Wand der Zelle geschrieben: "Sieg oder Tod". Wie bringt man eine solche Selbstverleugnung zustande?
Dellwo: Es ist Kennzeichen jeder revolutionären Bewegung, dass das, was man tut, wichtiger ist als die eigene Person. Wäre das nicht so, fände ich den Kampf korrupt und verachtungswürdig. Wer, wie wir von der RAF, bewaffnet agierte und auch für den Tod anderer verantwortlich war, konnte nicht am eigenen Leben hängen.
einestages: Für Sie galt dann weder Sieg noch Tod, sondern 20 Jahre im Gefängnis.
Dellwo: Wir haben auch im Gefängnis oft die Grenze vom Leben zum Tod berührt. Es sind auch Gefangene gestorben. Ich hatte vor der Botschaftsbesetzung akzeptiert, dass ich dabei sterben kann.
einestages: Wofür haben Sie ihr Leben aufs Spiel gesetzt und anderen ihr Leben genommen? Die RAF hat nie auch nur ansatzweise klar gemacht, wofür sie kämpft.
Dellwo: Das stimmt so nicht. Bei den Aktionen gegen den Vietnamkrieg hat sie ganz deutlich gemacht, wofür sie ist, nämlich für die Einstellung der Flächenbombardements und den Abzug des US-Militärs aus Vietnam. Und allgemein: Es wäre doch aberwitzig gewesen, wenn wir – ein paar Dutzend Leute – ein konkretes gesellschaftliches Gegenmodell geliefert hätten. Das sollte von einer größeren Bewegung geklärt werden, in die sich die RAF auflösen wollte.
einestages: Hat die RAF ihre Opfer nicht ebenso zu Objekten degradiert wie sie das zu befreiende Volk als Objekt in einer kapitalistischen Gesellschaft sah?
Dellwo: Die Reduzierung zum "gegnerischen Objekt" ist doch Bestandteil eines jeden Krieges – von jeder Seite. Was die Geiselerschießung in Stockholm betrifft, für die ich mit verantwortlich bin, sage ich schon seit langem, dass sie auch in einem kriegerischen Konflikt kein legitimes Mittel sein können. Man kann nicht Mittel einsetzen, die in einem klaren Gegensatz zum eigenen Ziel stehen.
einestages: Wie sahen Sie die so genannte "Offensive 77" der RAF?
Dellwo: Damals war ich froh, dass unsere Genossen den Versuch machten, uns rauszuholen. Von heute aus gesehen ist 1977 der Kampf entschieden worden, und die RAF hat ihn verloren. Die RAF dreht sich – besonders deutlich in der Flugzeugentführung der Landshut für die Befreiung ihrer Gefangenen – nur noch um sich selber. Unsere Absichten waren "privat" geworden, also bedeutungslos für andere.
einestages: Wann begannen Sie, die Aktionen der RAF kritisch zu sehen?
Dellwo: 1977 fand ich besonders den Auftakt der Schleyer-Entführung mit vier Toten verheerend. Vorher scheiterte schon der Entführungsversuch von Ponto mit seiner Erschießung. Für das, was politisch in der Gesellschaft möglich gewesen ist, war die militärische Härte der RAF völlig überzogen.
einestages: Wie sehen Sie die Aktion der dritten Generation der RAF?
Dellwo: Mit einer großen Distanz. Diese Attentate auf Personen zeigten, dass der fehlende soziale Inhalt bei uns militaristisch kompensiert wurde. Als dann der junge amerikanische Soldat Edward Pimental erschossen wurde, nur um an seinen Dienstausweis zu kommen, habe ich mich – wie auch andere RAF-Gefangene – erstmals öffentlich distanziert.
einestages: Politiker und Angehörige von RAF-Opfern verlangen heute von den Ex-RAF-Mitgliedern Reue. Zu recht?
Dellwo: Ich bedauere seit langer Zeit den Tod der Botschaftsangehörigen in Stockholm und meine Verantwortlichkeit dafür. Aber der Ruf nach Reue ist der Ruf nach einem unpolitischen Schlussstrich. Das lehne ich ab.
einestages: Welches Gefühl haben Sie heute, wenn Sie auf die Geschichte der RAF zurückblicken?
Dellwo: Ein graues. Es überwiegt die Trauer, ein zwangsläufiges Gefühl nach dem Scheitern. Andererseits sehe ich, dass wir verlieren mussten. Die Zeit war nicht reif und unsere Fehler zu schwerwiegend. Fidel Castro hat mal über die RAF gesagt: Ein heroisches Opfer, aber ein vergebliches.
einestages: Können Sie die Toten jemals vergessen?
Dellwo: Nein. Die Toten kann man nicht vergessen, nicht die der eigenen und nicht die der anderen Seite. Das möchte ich auch nicht.
Interview: Michael Sontheimer
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