Sozialforum sollte für uns sein: Treffen von Menschen, die müde sind von den Zwängen der alten Verhältnisse, die Gesellschaft immer härter und gnadenloser auszurichten auf Egoismus, Konkurrenz, Leistungsdruck, jeder sei sich selbst der nächste und der einzige – der ganzen Logik, die allen eintrichtern will: „sei asozial“, „denk an Dich“, „tritt den anderen, sehe ihn als Gefahr“, „sei fitter, schneller und brutaler – dann hast Du was“. Sozialforum sollte sein: Treffen von Menschen, die solidarisch sind, die erkennen, daß es unendlich vielen dreckig geht, daß wir darin nicht alleine sind, daß wir beherrscht sind vom 24-Stunden-Tag des Kapitals, daß wir Funktionswesen in einem sozial toten System sind, das blind akkumuliert und eine perverse Welt aufbaut, in der die Akkumulation von Wissen und technologischem Fortschritt dazu führt, daß die Armut in der Welt größer wird, daß die Voraussetzungen da sind, um alle materiellen und sinnlichen Bedürfnisse der Menschheit zu befriedigen, aber nicht genutzt werden dürfen, weil die idiotisierende Ausrichtung der kapitalistischen Produktion es so haben will. Sozialforum sollte auch sein: Treffen von Menschen, die begreifen, daß uns ungeniert ein Leben ohne sozialen Sinn zugemutet wird, daß Armut und Elend, Raub und Gewalt, Stumpfheit und Dummheit die zentralen Kategorien der Lebensgrundlagen der Mehrheit der Welt sind und wir es anders haben wollen. Sozialforum sollte sein: Treffen von Menschen, die von einer Welt für alleausgehen und von der Unteilbarkeit dessen, daß jeder Mensch darin das Recht auf Abwesenheit von Armut und physisch-psychischer Beeinträchtigung hat, ein gleiches Recht auf Bildung, Gesundheitsversorgung und auf das Entwickeln der Potentiale seiner Person. Sozialforum sollte sein: der Raum, in dem Veränderung gewollt wird, für sich und für die anderen. Sozialforum sollte sein: Ein Neuanfang gesellschaftlicher Emanzipation.
Hoffnung gaben uns die inhaltlichen und strukturellen Ansätze des Weltsozialforums, der Aufbruch in Porto Alegre, die Charta als Grundlage, die Auflösung altbekannter Hierarchie- und Ämterrollen. Der Anfang schien Mut zu machen. Das Spektrum der Anwesenden war breit und jeder schien behutsam zu sein. Auffällig war, daß die Mehrheit älter war. Spürbar war, daß viele Angst hatten vor dem, was sozialpolitisch durchgesetzt wird, Angst auch, vereinzeltes Opfer zu sein. Selbst bei Verbänden und Gewerkschaften schien die Erkenntnis auf, daß man alleine auf verlorenem Posten kämpft, daß die eigenen Reihen und der eigene Ideenhaushalt nicht ausreicht, um gegen die rasende Moderne des globalen Kapitals Bestand haben zu können. Es schien ein Zuhören zu geben, das beim anderen was lernen will. Das war eine neue Erfahrung. Hier hatten alle etwas Richtiges in der Hand. Das sollte man auf keinen Fall vergessen.
Es blieb ein kurzer Frühling. Wir haben den Ansatz wieder verloren. Schnell sind die alten Konfliktlinien wieder aufgetaucht. Schnell gab es den Streit zwischen denen, die aktuelle, traditionelle Politik machen wollten, erweiterte Verbands- und Kampagnenpolitik an klar definierten Interessen entlang und denen, die davon ausgingen, daß wir unsere Inhalte erst noch finden müssen, daß die gesellschaftliche Veränderung, die ansteht, auch uns selber erfaßt, daß wir keine „inneren“ Systemkämpfe um Besitzerhalt führen können und auch unsere Lebensvorstellungen hier in Frage stehen, daß wir die Systemfrage stellen müssen, anders als je zuvor, aber wir müssen die Frage beantworten, auf welcher Grundlage wir mit den anderen Menschen hier und in der Welt leben wollen. „Teilen ist die Lösung“ – das war eine der wichtigsten sozialen Ideen.
Wir stehen nicht nur gegen die, die das Privateigentum an den gesellschaftlichen Produktionsmitteln verteidigen, die Ausbeutung von Menschen für normal erklären, weil sie davon profitieren. Wir vertreten die Position, dass auch die andere Seite der gleichen, schlechten Medaille namens Kapitalismus, also das, was man früher Proletariat nannte, eine soziale Existenz ist, die aufgehoben und umgewandelt werden muß. Im Widerspruch Kapital – Arbeit kann man nicht nur eine Seite aufheben. Deswegen unsere Kritik an Gewerkschaften und Verbänden und den Versuchen, ihnen von vorneherein eine besondere Rolle im Sozialforumsprozeß zu geben. Jahrzehntelange Gewerkschaftspolitik, die sich selber grundsätzlich entpolitisierte und nur Verteilungskampf im Kapitalismus sein wollte, orientiert an den nur materiellen Interessen im nationalen Rahmen der eigenen Basis, zeigt, dass die Stellung im Produktionsprozeß kein privilegierter Ort für die Erkenntnis über die Gesellschaft ist. Für uns muss eine notwendige gegengesellschaftlichen Bewegung mehr beinhalten als der Protest gegen Hartz IV ausgedrückt hat. Wir stellen den Grundkonsens mit dem System des Kapitalismus in Frage.
Zu klärende Fragen gab es genug. Aber es kam zu keiner einzigen inhaltliche Dikussion. Stattdessen altmännerdominierte Ersatzveranstaltungen, die sich dem Pragmatismus der Verbands- und Gewerkschaftspolitik mit ihrer Festlegung des Agierens in den bestehenden Verhältnissen verschreiben wollten. Insoweit war das nichts anderes als der Versuch, den Sozialforumsprozeß im Grundsätzlichen unpolitisch einzugrenzen und nur die Rolle des Verbands- und Gewerkschaftsfunktionärs zu reformieren. An diesem Widerspruch ist der Bruch entstanden.
Wir sagen das nicht, weil wir Schuld verteilen wollen. Wir sind auch selber Bestandteil des Scheiterns. Auch unser Inhalt hatte nicht die Reife, die andere Positionen zu integrieren. Wir sagen das als Erklärung, warum wir uns aus diesem Prozeß erst einmal wieder herausgezogen haben. In dieser Politik geht es einem so wie am Fließband: der Takt wird von etwas äußerem vorgegeben. Wir können darin nur verlieren. Wir wollen diese Anpassung nicht. Das behindert uns nur, unsere Fragmente von Gegenkultur und Gegengeselschaft weiterzuentwickeln. Nichts ist tödlicher für jeden Aufbruch als sich in Funktionärsstrukturen hinein zu begeben. Und ebenso tödlich ist, sich im Kampf dagegen zu erschöpfen. Wenn dieser Prozeß für ein Sozialforum so schwierig und so von alten Vorstellungen behaftet ist, dann ist die Zeit noch nicht reif oder die Reife der Zeit von uns noch nicht erreicht. Die Montagsdemos haben es ausgesprochen: Die dort versammelten politischen Konzepte und Strategien entwickelten keine Eigendynamik, die Aufbruchsbegründungen blieben dem Bewußtsein der Gesellschaft fremd. Diese ganzen alten Ansätze hatten nichts Anziehendes, nichts Wiedererkennbares und so auch kein Kraft. Auch das führte dazu, daß unsere Widersprüche nach innen ausgetragen wurden.
Wir müssen grundsätzlicher werden in unserer Systemkritik.
Wenn es legal ist und legitim sein soll, daß die weltweit 400 reichsten Familien über mehr Eigentum verfügen als 3 Mrd. Menschen der Weltbevölkerung zusammen, dann spricht das davon, dass unsere gesamten sozialen Maßstäbe falsch sind und unsere Wahrnehmung krank ist. Ein Produktions- und Eigentumssystem, das solche Verhältnisse produziert, ist pervers und macht uns unmenschlich.
In einer Welt, in der wir über alles informiert sind, kennen wir alle barbarischen Zustände und können nicht umhin, dass WTO-System als mörderisch zu denunzieren. Keiner von uns könnte unter dieser Barbarei leben, die für hunderte von Millonen Menschen in der Welt Alltag sind. Für uns bedeutet linke Politik: Wir gehen in dieser Wahnwelt nicht weiter mit. Wir lassen uns nicht ausspielen gegen die Menschen in anderen Teilen der Welt, über die uns heute gesagt wird, wir müßten sie durch Lohndumping und Leistungssteigerung niederkonkurrieren. Auch da, wo heute der Kapitalismus das Lohndumping zur Verlagerung von Produktionsstädten nutzt, bleiben Millionen arbeitslos und ohne Chance auf gesicherte gesellschaftliche Teilhabe. Für uns bedeutet linke Politik: Alle anderen Menschen haben die gleichen Lebensrechte wie wir. Wir wollen mit ihnen solidarisch sein und nach Gemeinsamkeiten suchen, wir sagen, kollektiver Widerstand ist richtig und hilft uns neue, solidarische Maßstäbe zu finden und befreit uns aus der Entfremdung gegenüber dem Lebenssinn der Menschheit. Für uns bedeutet linke Politik deshalb auch: Wir wollen keine Reproduktion alter Verhältnisse in unseren eigenen Strukturen.
Eine andere Welt ist objektiv längst möglich durch die angesammelten technologischen Fähigkeiten der Menschen, die notwendige Arbeit zum Überleben für alle zu vermindern. Dazu brauchen wir global eine Umwälzung der Produktionsverhältnisse hin zur sozial ausgerichteten Produktion. Wir brauchen einen neu definierten Internationalismus, einen, der für die Gleichheit der Lebensverhältnisse der Masse der Menschheit kämpft, einen, der die Selbstverständlichkeit der Vorherrschaft von Europa und Nordamerika in der Welt negiert. Das sind begründete Zumutungen, die wir an jeden hier in der Metropole haben. Wir werden uns mit den ebenso vom Kapital ausgestoßenen und ausgebeuteten Menschen in dem Rest der Welt befreien oder wir werden wie sie verlieren und sie irgendwann als Feinde gegen uns haben. Wir sagen allen: Seid solidarisch und bekämpft alles, was die Gleichwertigkeit der Menschen verletzt. Wir können die Möglichkeiten der Welt gewinnen.
Wir sprechen von der Notwendigkeit der Loslösung von den bestehenden Verhältnissen. Wir sprechen davon, dass wir aus einer sozialen Sicht nur zu dem Ergebnis kommen können, dass das System des Kapitalimus delegitimiert werden muß. Auf dieser Basis wollen wir weiter nachdenken, diskutieren und möglichst auch mit anderen zusammen handeln.
Mitte Januar 2005
Karl-Heinz Dellwo