Interview-Text:
Sie engagieren sich im Hamburger Sozialforum gegen die Politik der Bundesregierung. Wieso?
So würde ich das nicht nennen. Die Politik der Bundesregierung ist für mich relativ belanglos. Sie macht nicht erst seit heute eine systemimmanente, also prokapitalistische Politik. Mich interessiert an diesem Sozialforum, ob sich etwas Neues bildet, etwas, das die Möglichkeit auf Transformation dieser Gesellschaft öffnet.
Ich betrachte mich als Wegbegleiter. Ich bin nicht Mitglied irgendeiner Gruppe. Wieder einmal hoffe ich, dass vielleicht eine systemoppositionelle Bewegung entsteht.
Sie haben Mitte August vor dem Sozialforum eine Rede gehalten und dafür heftige Kritik geerntet. Man warf Ihnen vor, das Forum zu spalten und Leute auszugrenzen.
Diese Kritik kam von den Transsozis. Ich habe auch viel Zustimmung erhalten. Viele sind mobilisiert, weil sie sich vom Sozialabbau bedroht fühlen. Das kann ich verstehen. Jetzt wird einem Teil der Gesellschaft, dem es gut gegangen ist, etwas weggenommen. Aber ich kann mich nicht darüber erregen, wenn ein Lehrer eine Stunde mehr arbeiten muss. Das ist im weltweiten Kapitalismus eine nebensächliche Ungerechtigkeit. Ich kann nicht dafür kämpfen, dass es in den Metropolen einen hohen Lebensstandard gibt, wenn Milliarden in Armut leben. Ich bin aber dabei, wenn wir uns Gedanken darüber machen, mit der Logik der Warengesellschaft zu brechen.
Es gibt kein Zurück zu den sozialstaatlichen Zuständen der siebziger und achtziger Jahre. Auch muss jeder eingestehen, dass der alte Sozialstaat, dieser Klassenkompromiss, auf gnadenloser weltweiter Ausbeutung basierte. Das wiederherzustellen, kann nicht Ziel einer sozialen Bewegung sein.
Sie bezeichnen die Agenda 2010 als europäisches Projekt. Was verstehen Sie darunter?
Auf der Konferenz der Regierungschefs 2000 in Lissabon wurde gesagt: Wir wollen Europa bis zum Jahr 2010 fit machen. Europa soll mit den anderen ökonomischen Zentren, ob USA oder China, um den Profit streiten können. Vor dem Hintergrund sehe ich auch diese Politik, die man heute Sozialabbau nennt.
Auf der einen Seite werden mit den Ein-Euro-Jobs neue sozialpolitische Maßstäbe gesetzt, die den Leuten klarmachen: Ihr müsst euch anstrengen oder ihr habt verloren. Auf der anderen Seite heißt es, das sei eine Übergangsphase, danach sei das wirtschaftliche europäische Gebilde wieder so ertragreich, dass die Mehrheit wieder einen privilegierten Lebensstandard besitzt. Den Leuten wird eingetrichtert, dass sie aggressiver ums Dasein kämpfen sollen. Aggressiv ist auch die Perspektive dieses Europas.
Sie sagten auf dem Sozialforum: »Ein Kampf, der nicht mit den Armen und Unterdrückten in anderen Teilen der Welt zusammenkommen will, ist nichts wert.« Aber wie soll man mit den Unterdrückten der Welt zusammenkommen? Wen meinen Sie damit? Die Unterdrückten haben oftmals völlig unterschiedliche Bedürfnisse und vertreten unterschiedliche politische Auffassungen.
Ich gebe zu, so, wie das in dieser Rede gefasst ist, hört sich das etwas romantisch an. Aber es hat eine materielle Seite. Die Unterdrückten in der Welt sind für mich die, denen alles vorenthalten wird, was für andere Normalität ist. Die heute nicht wissen, wovon sie morgen leben sollen, die ohne Gesundheitsversorgung sind und von Bildung ausgeschlossen. Mit ihnen zusammenzukommen, bedeutet mindestens, einen fairen Handel zu fordern, gegen die Ausplünderung ihrer Ressourcen zu protestieren und für gleichen Zugang zu Wissen und Bildung zu streiten. Dass man ihre Lebensrechte gleichrangig mit unseren betrachtet. Ein Kampf, der nicht davon ausgeht, ist für mich reaktionär.
Wenn Otto Schily Auffanglager in Nordafrika einrichten will und ich die spärlichen Abwehrreaktionen sehe, dann sagt mir das, dass ein Großteil dieser Gesellschaft eben nicht davon ausgeht, dass die anderen Menschen sind wie sie. Es geht nicht darum, von einem internationalen Klassensubjekt zu träumen, dass sich irgendwann in blauen Mao-Anzügen wiederfindet. Es geht um konkrete Fragen der Menschenrechte. Ich habe keine Lust, hier für die Abschaffung der Armut zu kämpfen, wenn das darauf basiert, dass anderswo die Leute ausgebeutet werden.
Sie kritisieren auch die Gewerkschaften. Was werfen Sie ihnen vor?
Die Gewerkschaften bewegen sich auf der ökonomischen, der kulturellen und ideologischen Grundlage des Systems. Ich habe auf dem Sozialforum gesagt, und das war etwas hart, dass die deutschen Gewerkschaften nicht von außen besiegt werden, sondern ihre Positionen freiwillig preisgeben. Sie fressen Scheiße von alleine.
Man muss sich nur den Konflikt bei Daimler-Chrysler ansehen, wie die Gewerkschaften das, was vom Kapital verlangt wird, als eigene Errungenschaft wieder ausspucken. Sie wollen keine Diskussion über die Systemfrage. In Hamburg unterlaufen sie selbst noch die spärlichen Proteste gegen Hartz IV und weigern sich, dazu aufzurufen. Ich glaube, dass sie am Ende zur FDP der Arbeitsplatzbesitzer werden.
Diese Kritik wollte man auf dem Hamburger Sozialforum nicht hören?
Es wird immer das gleiche Argument angeführt: Das versteht die Masse nicht. Das halte ich für ein reaktionäres Argument. Ich bin der Meinung, dass jedem die Wahrheit zuzumuten ist, und ich glaube nicht daran, dass man die Mehrheit der Bevölkerung zu einem Systemwechsel bekommt hinter ihrem Rücken, in kleinen Schritten, und ohne ihn zu benennen.
Was in Osteuropa unter dem Begriff »Sozialismus« gelaufen ist, ist nach wie vor diskreditiert. Wie soll es gelingen, etwa über das Eigentum an den Produktionsmitteln zu sprechen, ohne dass die Leute die Hände über dem Kopf zusammenschlagen?
Die Produktivkräfte müssen gesellschaftlich kontrolliert und beherrscht werden, oder sie beherrschen die Gesellschaft. Wenn die Leute das nicht hören wollen, dann ist es einfach so. Das Bewusstsein überlebt bekanntlich den Verfall der eigenen Basis lange Zeit. Aber ich kann begründen, warum man die Systemfrage stellen muss. Das sind keine ideologischen Versatzstücke. Und die Leute wissen das auch.
Sie waren über 20 Jahre im Gefängnis. Denken Sie nicht manchmal: Ich habe keine Lust mehr und versuche, für mich ein schönes Leben zu führen?
Ja, öfters, schön wär’s. Wenn ich es mir materiell erlauben könnte, würde ich die Welt besichtigen und bereisen.
Wenn ich das Gefühl habe, bei diesen neuen sozialen Ansätzen, es lohnt der Mühe nicht, dann lasse ich es. Ich würde den Leuten nicht sagen, wie sie meiner Meinung nach kämpfen sollen, das hat keinen Sinn. Wir müssen neue Diskussionen führen. Wie wollen wir miteinander leben, wie stellen wir uns die Gesellschaft vor, wie gehen wir mit dem Ende der Lohnarbeit um? Wenn das Ganze nur eine rückwärtsgewandte Bewegung bleibt, dann hoffe ich, dass es in zwei, drei Jahren etwas Neues gibt. Vielleicht gibt es auch nichts, dann werden wir ganz erbärmlich verlieren.