Was sagen Sie zu dem gegenwärtigen, nachträglichen Vorwurf der Liberalen, dass die Neue Linke Ende 60-er und in den 70-er Jahren Konflikte mit dem deutschen System provoziert hatte? Mit dem System, das grundsätzlich eine normale demokratische Gesellschaft war? (Solche “Normalisatoren“ machen bei uns nachträglich und rückwärtig das ganze sozialistische jugoslawische Projekt zu einem “nutzlosen Irrweg“).
Die Nachkriegsgesellschaft in der BRD war keine “normale demokratische Gesellschaft“. Ihre demokratische Verfassung war dieser Gesellschaft von außen aufgezwungen worden und war jahrzehntelang innerlich nicht angenommen worden. Die Führungsrollen, aber auch der Unterbau der Nachkriegsgesellschaft waren besetzt und gestellt von Antisemiten, Mördern, Mitläufer und Kollaborateuren.
Der radikale Diskurs, der über den Terror des Existierenden sprechen würde, wie es damals die anarchistische und marxistisch ideologische Tradition sprach, verschwindet. Jeder ist der strukturellen Gewalt überall um uns bewusst, aber nur als Symptom. Wen man aber fragt, wessen Symptom sie ist, verschwindet diese Übereinstimmung. Was meinen Sie, wo sind heute der Diskurs und die Praxis dessen, was sie fundamentale Opposition nennen?
Bewußt oder Unbewußt wissen oder ahnen fast alle, dass die alten Aufhebungsvorstellungen der Linken nicht ausreichen. Wir brauchen einen völlig neuen Ansatz, eine Revolutionierung auch des linken Denkens. Ich würde nicht sagen, dass es dazu keinen Diskurs gibt, auch nicht, dass es keine Praxis gibt. Nur ist beides nicht deutlich und nur fragmentarisch in – zumindest - Europa vorhanden. Damit müssen wir eine Zeit lang leben.
Es gibt viele, die allgemein, aber pauschal über den heutigen globalen Kapitalismus klagen. Der aber hat keine direkten Apologeten. Aber wenn man “Wege aus dem Kapitalismus“ schaffen und befürworten soll, gibt es wenige, die auf diese Karte ihre professionelle und menschliche Existenz wetten werden.
Das ist leider so. Hintergrund ist eine große Erschöpfung. Alles, was sich aus der Oktoberrevolution 1917 entwickelt hat, inklusive auch der modernen Bewegungen in Südamerika in den 60er und 70er Jahren, hat sich als unzureichend herausgestellt. Unzureichend in dem Sinne, dass ein großer Bereich des Lebens als emanzipatorisch bestimmter auf der Strecke bliebe. Die primären Ziele der Menschen blieben in Reich der Notwendigkeit, im Befrieden der materiellen Bedürfnisse. Der Wechsel zum Sozialen hin ist nicht gelungen. Am Beispiel der RAF sehe ich, dass es nicht möglich war, den revolutionären Kampf, der ja eben ein Machtkampf mit den alten Verhältnissen ist, zu verbinden mit der Entwicklung einer anderen Lebensvorstellung. Nach relativ kurzer Zeit war dieser revolutionäre Aufbruch ebenso dominiert von den Notwendigkeiten der Kampfentwicklung, also von außen bestimmt. Damit war die Interessenlage schon wieder “verobjektiviert“ und lag außerhalb der Gruppe, auch wenn sie immer wieder versucht hat, das zurückzuholen. Damit kamen aber alte Politikkonzeptionen zurück.
ZWISCHENTITEL:
Wir sind diejenigen, auf die wir gewartet haben
Wir haben ein Jubiläum nach einer Zeitspanne von 40 Jahren. So lange ist es seit der “achtundsechziger Revolte“ her. Was hat diese für Sie bedeutet, in Deutschland und anderswo?
Der antiautoritäre Aufbruch der zweiten Hälfte in den 60er Jahren war im poetischen so etwas wie das Eindringen frischer Meeresluft in einen vorher verschlossenen, muffigen Keller. Im Subjektkonstituiven war er eine wunderbare Stärkeerfahrung des vorher vereinzelten Individuums. Man hatte sich eh außerhalb der Gesellschaft gesehen, aber mehr als verlorener Ausgegrenzter. Nun war man Teil eines sich neu herausbildenden, unbewussten Kollektivs, welches sich mit Lust in die Gegenposition begab. Im politischen war es eine spannende Zeit der Erkenntnis, zu Anfang intuitiv, später im politischen Begriff.
Die unterschiedlichen Gruppen, besonders die RAF und die ganzen bewaffneten Kämpfe - wie viel schulden sie diesem Geist der 68-er und dem der neuen Linken und wie viel schulden oder verdanken sie irgendwelchen anderen Inspirationen?
Ich weiß nicht, wie man das trennen soll. Es gab einen internationalistischen Kontext. Alle haben sich gegenseitig befeuert in diesem neuen Internationalismus. Das fing schon mit der Musik an. Sie kam aus dem angloamerikanischen Raum. In der BRD waren die Black Panthers wichtig. Für alle in der Welt war Che Guevara oder Carlos Marighela wichtig. Che Guevara wiederum beneidete die Revoltierenden in den Metropolen, denn sie hätten, wie er damals sagte, “die Chance, im Herzen der Bestie“ zu kämpfen. Die Revolte und die Solidarität waren weltweit. Dieser Internationalismus belegt, das es sich um eine “echte“ Revolte handelte. Denn die “echte Revolte“ vertritt immer das Interesse der gesamten Menschheit. Nur aus diesem Selbstverständnis konnten sich die unterschiedlichen Bewegungen damals als “einheitliche“ sehen. Im Kampf für das Allgemeine hat das Eigene seinen legitimen Raum.
Was ist Ihre Meinung zu den Analytikern und Kritikern des Konzeptes der “urbanen Guerilla“ oder des bewaffneen Kampfes, die die Gründe nicht im Antiimperialismus und Antikapitalismus sehen, sondern primär in einem deutschen Generationskonflikt, in der Revolte der “Kinder“ gegen die faschistischen oder semi- /proto- /urfaschistischen Vorfahren, wie man z. B. auch den Film “Deutschland im Herbst“ wahrnimmt?
Es ist ein Teil der Wahrheit. Als alleinige Begründung widerlegt es sich schon deshalb, weil auch in anderen Teilen der Welt die Revolte ausbrach. Es gab in der Revolte in Deutschland zweifellos etwas spezifisch deutsches, so wie es in der Revolte in Italien auch etwas spezifisch italienisches gab. Natürlich hat uns die Erfahrung mit dem deutschen Faschismus sowohl historisch, wie aber auch über das Fortlebens seiner Strukturen und Mentalitäten in der Nachkriegszeit geprägt. Zweifellos schleppten wir auch einiges mit und haben ungewollt Dinge reproduziert, die wir bekämpfen wollten. Gleichwohl war es eine Revolte gegen die falsche, weil von Ausbeutung und Unterdrückung bestimmte Ordnung der Welt, also gegen die weltweite Nachkriegsordnung. Wer von Faschismus redet, so ein vielzitierter Satz von Horkheimer, darf vom Imperialismus nicht schweigen.
ZWISCHENTITEL:
Der innere Kreis
Erklären Sie, bitte, die Verhältnisse zwischen der ersten und der zweiten sowie den nächsten RAF-Generationen. Vor allem, aber, die Verhältnisse im „Kern“ der ersten Generation. Was hat Sie dort angelockt? Sie behaupten immer noch, dass der Kampf der RAF bis 1977 mit anderen Kämpfen in Welt korrespondiert hat, dann aber seinen Bezug verlor und der Selbstbezug der Gruppe dominierte und der Militarismus radikalisiert wurde?
Mein Verhältnis zu einem Teil der RAF-Gründern war zu Anfang sicher erheblich von Bewunderung geprägt. Sie waren in der Regel 5 bis 10 Jahre älter als ich. Ich war in meinen Zusammenhängen, wie meistens, eher einer der jüngsten. Dann war das Verhältnis geprägt von Distanz, die nicht Abgrenzung sein wollte sondern Anerkennung dessen, dass wir unterschiedlich politisiert waren, andere Lebenserfahrungen, andere Politisierungen hinter uns hatten und erst noch im revolutionären Kampf zusammenkommen müssen. Ich hatte ihnen damals eine höhere Erkenntnis zugebilligt als mir. Ich glaube, umgekehrt war das Verhältnis auch nicht einfach. Gudrun Ensslin schrieb einmal an die Stockholmer Gruppe, dass es ihr schwer fällt, ein wirkliches Bild von uns zu entwickeln. Angelockt hat mich das Bedürfnis nach Eindeutigkeit im revolutionären Prozeß, auch der Wunsch, darin Mutig zu sein oder zu werden und jede Angst vor Machtstrukturen zu überwinden. Meine Bereitschaft, ernsthaft etwas zu wollen, hatte ich auch auf sie projeziert. Ich wollte einen radikalen Trennungsstrich zur alten Gesellschaft, zur alten Generation und zum Kapitalismus/Imperialismus. Ich hatte unterstellt, dass das für sie, für die also, die den Kampf begonnen hatten, genauso ist. Ich wollte zeigen, dass das Verhältnis an mir nicht brechen wird.
Welche Rolle hatte Hans Joachim Klein? Was war der Unterschied zwischen der Gruppe “2. Juni“ und RAF? Wer sind Inge Viet und “Nautilus“?
Ich kann persönlich zu Hans-Joachim Klein wenig sagen. Sein Buch ist ja von anderen erheblich bearbeitet worden, von Leuten, die heute als bekannte Grüne zu politischen Systemvertreter geworden sind und damals auf den Weg dahin waren. Ich glaube, das Dilemma von einem Kampfabschnittsgenossen wie Klein war, dass die Revolte für ihn ein Fest sein sollte, in welchem Engagement mit der sozialen Anerkennung des “Heros“, des linken Helden verbunden war. Man muss schon ein überraschend einfaches Bewusstsein haben, zu denken, dass man nach einer solchen Aktion wie der OPEC-Geiselnahme wieder ins szenegeprägte Frankfurter Kneipenmillieu zurückkehren könnte. Nicht nur in Bezug auf den Staat und die Polizei, also auf den Stand der Konterrevolution, sondern auch auf sich selbst. Als wäre man danach noch der gleiche wie vorher. Wer ein Bewusstsein davon hat, was er macht, für den passt nach seinen Aktionen kein früherer Rahmen mehr. Formal gehörte Klein weder der Bewegung 2. Juni noch der RAF an sondern wurde von den Revolutionären Zellen, hier vom internationalen Flügel der RZ, für die OPEC-Aktion mobilisiert.
Der Unterschied zwischen RAF und “Bewegung 2. Juni“ ist zu Anfang der zwischen Notwendigkeit und Möglichkeit gewesen, man könnte auch sagen zwischen Leninismus und anarchistischer Sozialbewegung. Später wird es schwieriger, weil die Bewegung 2. Juni sich, was die Männerseite betraf, auflöste und was die Frauenseite betraf, teils zur RAF gehen wollte. Im Ursprungsverhältnis RAF – 2. Juni kennzeichnet letztlich die Entscheidung zum Unumkehrbaren in der RAF den Unterschied zum 2. Juni und zu anderen Gruppen. Das Sieg-oder-Tod-Verhältnis, die Unbedingtheit des Trennungsstrich, war in der RAF zentral. Ich beziehe mich hier auf das politische Konzept. Im persönlichen haben viele vom 2. Juni genau so viel eingesetzt wie viele RAF-Mitglieder.
“Nautilus“ ist ein verdienter anarchistischer Verlag in der BRD, dem die Erinnerung an viele soziale Kämpfe zu verdanken ist, die außerhalb der kommunistischen Tradition lagen.
Inge Vieth zählt zu den Gründungsmitgliedern der Bewegung 2. Juni, war kurz in der RAF, von der sie sich trennte, emigrierte mit ehemaligen KämpferInnen der RAF in die DDR und lebte dort im Kontext der politischen Arbeit der SED. Heute sieht sie sich als Teil der außerstaatlichen Linken. Ich glaube, dass Inge Vieth von einem praktischem Verhältnis zum Leben und zum Widerstand geprägt ist. Das hat gute wie negative Seiten. Zu den Guten zählt, dass sie immer etwas versucht, zu den Negativen, dass man von ihr keine tieferen Reflektionen erwarten kann und sie deswegen an alten Klassenkampfpositionen kleben bleibt.
Was bedeutet für Sie die Erfahrung des Gefängnisses und besonders die nichtstattfindende oder dementierende Diskussion über das, was diese Hochsicherheitstrakte für Sie waren? Sie waren jahrelang in einer Diskussionsgruppe mit Psychotherapeuten. Was hat für Sie die Gruppentherapie bedeutet?
Die Zeit im Gefängnis war die Erfahrung einer andauernden, das existenzielle angreifende Extremsituation. Das Überleben war nicht einfach. Oft hatte man das Gefühl, dass dies nur mit knapper Not gelingt. Rückblickend habe ich nichts, wofür ich mich schämen müsste. Insoweit habe ich eine positive Erfahrung, die ich nicht missen möchte. Eine gesellschaftliche Diskussion über die Zeit in den Hochsicherheitstrakten gibt es nicht. Sie wird nicht gewollt, denn heute will der Staat an sein eigenes Freund-Feind-Verhältnis in dieser inneren Konfrontation nicht erinnert werden. Stattdessen wird hier öffentlich staatlicherseits viel darüber herumgelogen. Ich glaube aber nicht, dass das geschichtlich Bestand haben wird. Es gibt zu viele harte, unwiderlegbare Tatsachen.
Ich war mit einigen anderen Ex-Gefangenen jahrelang in einer Diskussionsgruppe, in der es auch Therapeuten gab. Es war aber keine Gruppentherapie. Wir haben uns nicht an die anwesenden Therapeuten gewandt. Wir wollten eine Gruppe mit Externen, denen wir vertrauen konnten, weil sie die Chance eines anderen Blicks für uns mitbrachten. Es waren wichtige und produktive Diskussionen, in denen die Stellung von jedem untersucht werden konnte, gerade auch die der Externen.
ZWISCHENTITEL:
Der Verrat ist immer fatal
Nach Ihrer erschütternden Erfahrung, wie kann man das unglückliche Bewusstsein der heutigen Linken vermeiden? Sie sind das Beispiel eines Menschen, der nach allem, was er hinter sich hat, nicht desperat wirkt. Was ist aus Ihrer Erfahrung übertragbar und was nicht? Ich weiß, dass Sie manchmal irritiert sind von einem nachholenden “Verständnis“ und nachholenden “Sympathisanten“, die damals nicht als Unterstützer des bewaffneten Kampfes auftraten.
“Unglückliches Bewusstsein“ heißt aber schon, dass man ein Bewusstsein von seinem Unglück hat. Das wäre schon mal viel. Daraus ergibt sich nicht notwendigerweise eine Lösung, denn die Machtverhältnisse sind unendlich stark. Lieber also ein unglückliches Bewusstsein als ein Bewusstsein ohne Wissen des Unglückes. Aufheben können wir es nur in einer Gesellschaft, in der die Ausbeutung und die Entfremdung aufgehoben wird. Gelingt uns das nicht, bleiben wir um die Möglichkeiten eines Lebens betrogen, also darum, dass Wissen um die Welt und das Soziale darin auszudehnen, Bewusstsein über die Welt, die Menschen und das Leben zu entwickeln.
Wir sind von uns als kolonisierte Menschen ausgegangen, also als Wesen, die von den Gesellschaftsverhältnissen entfremdet, verbogen und sowieso ausgebeutet werden. Zu den Erkenntnissen der RAF gehörte, dass die äußere Unterdrückung nur vermittels der inneren wirken kann. Die Folge ist klar: Wir stehen selber in diesem Kampf zur Debatte. Das System “außen“ und seine Spuren in uns müssen aufgehoben werden. Unzweideutig folgt daraus auch: Das vorhandene Massenbewusstsein kann keine Orientierung sein. Es ist selber Teil des Problemzusammenhangs entfremdeter Existenz. Die RAF ging von der Notwendigkeit einer grundlegenden Veränderung des Subjekts aus. Zur RAF gehörte, dass wir in allen von uns selbst ausgehen müssen, auch bei uns selbst bleiben müssen. Ich habe vor dem Gefängnis versucht, mich von den Verhältnissen nicht überrumpeln zu lassen. Ich wollte das Bedürfnis, Subjekt in der Welt zu sein, das jeder Mensch mit seiner Geburt mit sich bringt, in mir nicht untergehen lassen und sozial ausrichten. Die Anforderung an mich war, dass dieses Subjekt nicht für sich kämpft, sondern – vom Mensch als Gattungswesen ausgehend – die Anderen integriert, also ein kollektives Subjekt sein will. Meine ganze Gefängniszeit war davon geprägt, gegen dessen wahnwitzige Gewalt bei mir selbst zu bleiben oder wieder dort hin zurückzufinden. Deswegen bin ich dort nicht zerstört herausgekommen.
Wie verstehen Sie, Ihren Wortern nach, den gewissermaßen notwendige Moment des Verrates? Von den epochalen Ideen der permanenten und verratenen Revolution (wie der von Trotzki für die Sowieten, aber auch von vielen Revolutionen der dritten Welt, sogar auch der jugoslawischen) bis zum Verrat als einem notwendigen Moment jeder Gruppendynamik, in der sich Leute finden und auseinander gehen? Muss das immer fatal sein?
Verrat per se ist immer fatal. Das gilt auch für den Klassenverrat, wenn damit nur ein Überlaufen gemeint ist statt Überwindung einer falschen Lebensexistenz. Ich kann im Verrat keine produktive Kraft sehen, weder für die, an die etwas verraten wird noch für die, die den Verrat begehen. Wir müssen den Begriff Verrat aber präzisieren. Nicht die Abwendung oder die grundlegende Differenz ist Verrat. Verrat setzt anstelle von Erkenntnis, von Kampf um Erkenntnis und von der berechtigten Anforderung nach Solidarität verachtenswertes wie Preisgabe und Verkauf. Das ist die individuelle Seite. Sie ist für mich aber nicht so entscheidend, weil man hier auch immer den Hintergrund sehen muss. Wer überrollt wird und alles Preis gibt, begeht objektiv Verrat und ist doch auch ein Opfer. Man kann nicht leicht darüber urteilen.
Entscheidend für mich ist die politische Seite. Zu ihr gehört, dass die Legitimation einer revolutionären Gruppe an die Allgemeingültigkeit ihre Ziele gebunden ist. Das ist das Fundament der Zukunft. Diese Allgemeingültigkeit erweist ihre Bedeutung besonders in der Krise. 1977 hat die RAF den Anspruch der Allgemeingültigkeit ihrer Moral preisgegeben und sich gesellschaftlich privatisiert. Eindeutig war das, als sie eine Flugzeugentführung für legitim ansah. Dies bedeutete nichts anderes als die Entscheidung, die Masse zum Objekt zu machen, also ein Herrschaftsverhältnis ihr gegenüber zu entwickeln. Das Entwickeln eines Herrschaftsverhältnisses will ich Grundsätzlich als Verrat definiert sehen.
Manche ehemaligen Terroristen, sowie Theoretiker, die in naher Beziehung zu den Autonomen standen, wie z. B. Antonio Negri in Italien, konstatieren, dass Terrorismus, im Sinne des Terrorismus aus den 70-er Jahren, heute nicht möglich sei. Wie ist Ihre Meinung gegenüber dem “Terrorismus heute“? Was für einer ist möglich, und was für einer ist nicht möglich?
Den Begriff des Terrorismus, so wie er in der Frage gestellt ist, teile ich nicht. Wir haben uns nie als Terroristen definiert sondern als Revolutionäre, die, aus ihrer Minderheitenlage und der Übermacht des Systems heraus von der Notwendigkeit des Bewaffneten Kampfs ausgingen. Nur in der materielle Konfrontation, im Bewaffneten Kampf, im Nicht-Integrierbaren, im Nicht-Kaufbaren lag für uns die einzige Möglichkeit, die alltägliche, ungeheure Ideologieproduktion des Systems durchbrechen zu können. Ich lehne es ab, alles, was heute gegen den Westen läuft, grundsätzlich als Terrorismus zu definieren, auch wenn ich die meisten Bewegungen, die gegen den Westen kämpfen, inhaltlich ablehne. Der Westen selber ist mit seinen Kriegshandlungen ein terroristischer Akteur. Hier hebt sich die Frage des Terrorismus also auf.
Möglich ist erst einmal alles, auch Wiederholungen. Die Widersprüche können nicht eingefroren werden und suchen sich ihren Ausdruck. Früher war der nationale Rahmen der Befreiungsbewegungen in einem Internationalismus aufgehoben, der Widersprüche wie “Nation“ und “Solidarität der Menschen“ zusammenbrachte. Alle Staaten, die aus den Befreiungsbewegungen hervorgegangen sind, durchlaufen eine Phase der nachholenden nationalen Entwicklung mit allem drum und dran, eigener Staatsform, nationaler Identität, Konkurrenz der Staaten usw. – ein Überspringen von Entwicklungsstufen, wie sie in den alten Industriestaaten geschichtlich abgelaufen sind, scheint nicht möglich. Nur ihre Beschleunigung. Wahrscheinlich kann man nur das verwerfen, was man selber kennen gelernt hat. Die Idee der Nation muß sich im innern widerlegen, um aufgehoben werden zu können. Im Islamismus sehe ich eine rückwärtsgewandte Bewegung, die gegenüber den sozialen Zerstörungen des Westens die Illusion einer scheinbar intakten Vergangenheit setzt. Ich sehe darin aber auch das gewaltsam aufbrechende Selbstbewusstsein, um am globalen Tisch als Gleichberechtigte zu sitzen. Die alte Rollenstruktur der Welt als Ergebnis aus dem zweiten Weltkrieg und den antikolonialen Kämpfen ist heute auch im Bewusstsein der untersten Massen zerstört. Deswegen hat der Kampf gegen den Westen und seine Kultur auch ein großes Reservoir.
Was sind die Formen der zukünftigen Kämpfe der Linken: Ist das Partei-, Gewerkschafts-, nichtstaatlicher oder irgendein anderer Kampf? Kann er in der so genannten “post-nationalistischen Konstellation“ überhaupt noch nationale Rahmen haben?
Das kapitalistische System ist Global und besteht aus kooperierenden und konkurrierenden Imperialismen, die aber auf der gleichen Grundlage operieren, also der Warenproduktion. Insoweit kann es heute weniger denn je einen nationalen Rahmen geben, in dem Befreiung sich realisiert. Sie kann nicht einmal Modellhaft im nationalen Rahmen gedacht werden. Das wussten wir aber schon in den 70er Jahren. Das ist also nicht neu sondern allenfalls unverdrängbar. Jede revolutionäre Bewegung tritt als Teil eines weltweit zu findenden linken Konsenses auf oder ist schon überholt. Gleichwohl gibt es einen eigenen Sprachraum und vorherrschende, geschichtlich gewachsene Besonderheiten, die auch die kämpfenden Subjekte prägen. Das als Problem zu erkennen, gehört zur kritischen Selbstreflexion. Zum überholten Nationalen gehören politische Organisationsformen wie Parteien und Gewerkschaften. Wenn der Nokia-Konzern in Bochum eine profitable Dependance schließt, weil er in Ungarn eine noch profitablere eröffnen kann, macht das alle bisherigen Politikformen, die auf nationale Klassenauseinandersetzungen ausgerichtet waren, vollständig lächerlich. Aber nicht nur die nationale Ausrichtung des Klassenkampfes ist längst obsolet. Ebenso deren ökonomische Reduktion erweist sich nur noch als politische Schwäche. Die kapitalistische Produktionsweise ist längst allen gegenüber zur zweiten Natur geworden. Sie hat Vollstrecker, aber keine unabhängigen Subjekte mehr. Diese zweite Natur als Ganzes müssen wir dem Menschen unterwerfen. Der Antagonismus besteht gegenüber dem ganzen System.
Gespräche
Titel: Karl-Heinz Dellwo, ehmaliges RAF Mitglied
Einleitung: Wir haben uns nie als Terroristen definiert sondern als Revolutionäre, die, aus ihrer Minderheitenlage und der Übermacht des Systems heraus von der Notwendigkeit des Bewaffneten Kampfs ausgingen. Nur in der materielle Konfrontation, im Bewaffneten Kampf, im Nicht-Integrierbaren, im Nicht-Kaufbaren lag für uns die einzige Möglichkeit, die alltägliche, ungeheure Ideologieproduktion des Systems durchbrechen zu können. Ich lehne es ab, alles, was heute gegen den Westen läuft, grundsätzlich als Terrorismus zu definieren, auch wenn ich die meisten Bewegungen, die gegen den Westen kämpfen, inhaltlich ablehne. Der Westen selber ist mit seinen Kriegshandlungen ein terroristischer Akteur. Hier hebt sich die Frage des Terrorismus also auf.
Lead1: Es gab Ende der 60er Jahre in den Metropolen ein von Befreiungshoffnungen inspiriertes Aufbruchklima. Che Guevara wiederum beneidete die Revoltierenden in den Metropolen, denn sie hätten, wie er damals sagte, “die Chance, im Herzen der Bestie“ zu kämpfen. Der Versuch zur Revolution musste damals gemacht werden. Diesen Versuch nicht zu machen, wäre der größte Fehler gewesen
Lead2: Die Zeit im Gefängnis war die Erfahrung einer andauernden, das existenzielle angreifende Extremsituation. Das Überleben war nicht einfach. Oft hatte man das Gefühl, dass dies nur mit knapper Not gelingt. Rückblickend habe ich nichts, wofür ich mich schämen müsste. Insoweit habe ich eine positive Erfahrung, die ich nicht missen möchte
Lead3: Die Nachkriegsgesellschaft in der BRD war keine “normale demokratische Gesellschaft“. Ihre demokratische Verfassung war dieser Gesellschaft von außen aufgezwungen worden und war jahrzehntelang innerlich nicht angenommen worden. Die Führungsrollen, aber auch der Unterbau der Nachkriegsgesellschaft waren besetzt und gestellt von Antisemiten, Mördern, Mitläufer und Kollaborateuren
Lead4: Der antiautoritäre Aufbruch der zweiten Hälfte in den 60er Jahren war im poetischen so etwas wie das Eindringen frischer Meeresluft in einen vorher verschlossenen, muffigen Keller. Im Subjektkonstituiven war er eine wunderbare Stärkeerfahrung des vorher vereinzelten Individuums. Man hatte sich eh außerhalb der Gesellschaft gesehen, aber mehr als verlorener Ausgegrenzter. Nun war man Teil eines sich neu herausbildenden, unbewussten Kollektivs, welches sich mit Lust in die Gegenposition begab
Lead5: Ich wollte das Bedürfnis, Subjekt in der Welt zu sein, das jeder Mensch mit seiner Geburt mit sich bringt, in mir nicht untergehen lassen und sozial ausrichten. Die Anforderung an mich war, dass dieses Subjekt nicht für sich kämpft, sondern – vom Mensch als Gattungswesen ausgehend – die Anderen integriert, also ein kollektives Subjekt sein will. Meine ganze Gefängniszeit war davon geprägt, gegen dessen wahnwitzige Gewalt bei mir selbst zu bleiben oder wieder dort hin zurückzufinden. Deswegen bin ich dort nicht zerstört herausgekommen
Es gibt, also, das Bewusstsein, das mit dem Kopf durch die Wand laufen muss und man soll es deswegen unglücklich nennen. Jedoch nicht unschuldig. Aber es kann nicht einfach als etwas zu verurteilen gekennzeichnet werden, so wie man einen Versuch der Revolte oder Revolution nicht verurteilen kann.
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Unsere Aufbruch war richtig. Es war ein Versuch, „das Kontinuum des Bestehenden“ aufzubrechen.
Srecko Pulig: Karl-Heinz Dellwo, Kein Ankommen, kein Zurück
Als RAF Mitglied (Rote Armee Fraktion), hat Karl-Heinz Dellwo Geschichte gemacht mit der Aktion vom 25. April 1975, als er, zusammen mit fünf Freunden, unter dem Namen Kommando Holger Meins, die deutsche Botschaft in Stockholm besetzte. Ihre Forderung war, 26 RAF Häftlinge aus den unmenschlichen Bedingungen der Gefängnisse zu befreien, darunter die Gefangenen in Stammheim. Unter den Häftlingen waren Andreas Baader und Urlike Meinhof, zwei von vier bekannten Radikalen (neben Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe), die unter bis heute noch umstrittenen Umständen in diesem Gefängnis das Leben beendet haben (die einzige Überlebte, mit schweren Verletzungen, war Irmgard Möller).
Die Aktion in Stockholm nahm kein gutes Ende. Zwei Geiseln, Beamten in der Botschaft, wurden umgebracht (Andreas von Mirbach und Heinz Hillegaart), während zwei Kommandomitglieder (Ulrich Wessel i Siegfried Hausner) an den Folgen der ungeklärten Explosion starben. Die vier überlebende RAF-Mitglieder wurden verhaftet und am 20. Juli 1977 zu lebenslanger Haft verurteilt (Karl-Heinz Dellwo, Hanna Krabbe, Bernd Rössner und Lutz Taufer). Keiner von ihnen hat je denunziert.
Beim RAF Mitglied Stefan Wisniewski wurde bei dessen Verhaftung in Paris, eine von Dellwo geschriebene Notiz gefunden wurde, in der er die Flugzeugentführung der Boing 737 (Landshut) kritisierte, die die PLO in Absprache mit der RAF vornahm und die in der somalischen Stadt Mogadishu endete. Dellwo wurde er im Frühjar 1995 aus dem Gefängnis entlassen.
Er ist einer der wenigen ehemaligen RAF Mitglieder, der sich vor öffentlichen Auftritten nicht scheuen. Schon 1997 veröffentlicht die Zeitschrift Die Beute einen längeren Artikel von ihm, „Mitten im Nebel“, der 1990, also noch im Gefängnis, entstanden ist als Dellwo’s Reflexion über den Kampf der RAF und den inneren Strukturen. Danach folgten auch zwei Bücher, beide veröffentlicht im 2007: „Nach dem bewaffneten Kampf“, Hrsg. Angelika Holdersberg. Ehemalige Mitglieder der RAF und Bewegung 2. Juni und Psychoanalytiker sprechen über ihre Vergangenheit. Aus diesem Buch wurde in der Zagreber Zeitschrift Up & Underground Nr. 13/14 2008, welche dem Mai '68 gewidmet ist, das Kapitel “Kein Ankommen, kein zurück“ publiziert. 2007 erschien auch das Buch: “Das Projektil sind wir. Der Aufbruch einer Generation, die RAF und die Kritik der Waffen.“ Gespräche mit Tina Petersen und Christoph Twickel.
ZWISCHENTITEL:
Andere Methode, dieselbe Beurteilung
Jedem, der ihm begegnet, ihn hört oder der etwas liest, von dem was Dellwo, der sich jetzt als Autor mit Dokumentarfilmen in eigener Produktion beschäftigt (www.bellastoria.de), geschrieben hat oder schreibt, wird klar, dass er kein Büßer ist, keine Figur, die ihre radikale Vergangenheit (nur) explorieren würde, um auf die andere, systemeigene Seite überzugehen. Seine kritische Auseinandersetzung mit der Gesellschaft wurde nicht stumpfer, obwohl die Kampfmethoden sich geändert haben.
Zum möglichen Dissenz in seinen öffentlichen Auftritten und Texten könnte seine These beitragen, dass es sich im Fall der möglichen Morde in Stamnheim um Selbstmorde unter Beobachtung der Behörde handelt, als eine letzte radikale Tat der so genannten Baader-Meinhof Gruppe. Bei anderen, nicht nur in radikalen Kreisen, herrscht die These des Mordes. Dellwos Bruder Hans-Joachim, der auch über eine radikale Vergangenheit verfügt und heute, mit einer neuen Identität in Kanada lebt soll in Versuche involviert sein, anderen RAF-Mitgliedern Waffen ins Gefängnis geliefert zuhaben. Manche behaupten, dass so eine Lieferung möglich war, andere, dass sie nicht möglich war. Wie auch immer, es gibt einen Bericht einer unabhängigen Kommission, die aus Wissenschaftlern, Intellektuellen und Juristen bestand, nachdem Mord möglich gewesen sei. Für seine alternative Theorie fehlt Dellwo der harte Beweis.
Karl-Heinz Dellwo war Ende Mai in Zagreb (Kroatien) zur Teilnahme am Subversive Film Festival (18.-24.05.2008). Und zwar zweideutig: Als beobachtete Person in dem gezeigten Dokumentarfilm „Stockholm“ von David Aronowitsch, wie aber auch als aktiver Teilnehmer auf Tribünen und Diskussionen, während des ganzen Festivals. So hat er am Mitwoch, den 21.05., einen Vortrag im KIC gehalten, unter dem Titel „Über RAF und dem bewaffneten Kampf“, und am Freitag, den 23.05., war er bemerkenswerter Teilnehmer an der Diskussion, die im vollbesetzten Europa Kino (ehemaliges Balkan) stattgefunden hat zum Thema „1968 – gestern, heute, morgen“. Außer ihm nahmen noch der Philosoph Slavoj Žižek, der Architekt Neil Leach und das Mitglied der „Bewegung 2. Juni“ Gabriele Rollnik teil. Mit dem Ankommen solchen Kämpfer für die Änderung der Welt in unserer kleine Stadt und unseren noch kleineren neugegründeten Staat mit einer anästhesierten Gesellschaft und, meistens, erfolgreich dirigierten Öffentlichkeit, gelang es schlagartig, die in pseudo-dogmatischer Schläfrigkeit eingeschlafene lokale Linke aufzuwecken. Mit und ohne Anführungszeichen. Ebenso die intellektuellen Bürokraten des so genannten Medienmainstreams, die wie z.B. der Schriftsteller Miljenko Jergović in der Zeitung Jutarnji list aus der Pose eines überpolitischen Weisen von Gavrilo Princip, Menahem Begin, Jaser Arafat, Andreas Baader und Ulrike Meinhof bis hin zu dem kroatischen nationalistischen Extremisten Zvonko Bušić alle über den gleichen Strang des „romantischen Terrorismus“ ziehen. Und all dies kategorisierten in der Art: … Baader und Meinhof kämpften für „die Freiheit des von Seiten der kapitalistischen Kompanien, Konzerne und Korporationen unterdrückten Proletariats“, und der erwähnte Bušić „für die kroatische Befreiung von dem jugoslawischen Staat“. Und diese Meinung wird in unserer Umgebung eine linke Meinung genannt. Das Interview mit Karl-Heinz Dellwo führten wir nachträglich.