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"Kritik war nicht denkbar"

Interview von: FR-Online, veröffentlicht: 18.10.2007 um 16:20:01 Uh

Direkter Link zum Artikel: http://www.fr-online.de/in_und_ausland/politik/dossiers/spezial_deutscher_herbst/1228542_Kritik-war-nicht-denkbar.html

"Kritik war nicht denkbar"

Karl-Heinz Dellwo, Sie waren als ehemaliges RAF-Mitglied vor zehn Jahren der erste aus dem Kreis der Nicht-Aussteiger, der der These öffentlich widersprochen hat, dass Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan Carl Raspe am 18. Oktober 1977 im Hochsicherheitstrakt von Stuttgart-Stammheim ermordet wurden. Waren ihnen schon vorher Zweifel an der Mordthese gekommen?

Für mich gab es einen Widerspruch: Wir sahen uns damals mit dem "Modell Deutschland" konfrontiert. Das war der Versuch der Sozialdemokratie, einen sozialpartnerschaftlichen Kapitalismus herzustellen – damit sollte Deutschland in der Welt als ein demokratischer, modernisierter Staat dastehen, der sich vom Nazismus gelöst hatte. Dieses Projekt durch eine Mordaktion an den RAF-Gefangenen zu gefährden – das schien mir nicht plausibel zu sein.

Sie vermuten heute, man habe im Staatsapparat gewusst, dass es Waffen in Stammheim gibt. Was ist Ihre Version der Ereignisse?

Ich gehe von einem staatlich beobachteten Selbstmord aus. Ich bin heute sicher, dass Volker Speitel, der gemeinsam mit meinem Bruder Hans Joachim den Transport der Waffen nach Stammheim organisiert hatte, sich bei seiner Einreise von Dänemark nach Deutschland freiwillig der Polizei gestellt hat. Er wusste, bevor er einreiste, dass ihm mindestens15 Jahre Gefängnis drohten. Es trotzdem zu machen, beinhaltet schon die Bereitschaft dazu, eine Aussage zu machen.

Offiziell datiert die Vernehmung von Volker Speitel aber auf den Zeitpunkt nach dem 18.10.1977, also nach der Todesnacht von Stammheim.

Das sagt gar nichts. Man hat ja am Fall Verena Becker gesehen, wie so etwas geht: Sie hat gegenüber dem Verfassungsschutz ausführliche Aussagen gemacht und die tauchen nirgendwo auf. Als Knut Folkerts im September '77 in Utrecht verhaftet wurde, haben sie ihm eine Million angeboten sowie freies Geleit, wenn er verrät, wo Schleyer versteckt ist, und ihm gedroht, ihn aufzuhängen, wenn er es nicht macht. Ausgerechnet zu Speitel, von dem bekannt war, dass er der Verbindungsmann zu den Illegalen war, soll keiner gegangen sein und ihm was angeboten haben? Das kann mir niemand erzählen. Wenn er aber einen Deal gemacht hat, dann war das, was er einzubringen hatte, die Information über die Waffen in Stammheim.

Angenommen die Hypothese stimmt: Warum glauben Sie, hat die Bundesrepublik zugelassen, dass sich die Häftlinge in Stammheim umbringen, warum wurde nicht verhindert?

Man muss sich vor Augen führen, was damals für Vorschläge kursierten: Generalbundesanwalt Kurt Rebmann plädierte für die Wiedereinführung der Todesstrafe. Franz Joseph Strauß schlug vor, für jede tote Geisel einen Gefangenen zu töten. Erst vor kurzem hat Stefan Aust in seiner Fernseh-Dokumentation einen BKA-Beamten zitiert, der 1972 anbot, sich in eine observierte Garage einschließen lassen wollte, um Andreas Baader und Holger Meins bei ihrer Ankunft zu erschießen. Solche Leute hatten einen militarisierten Blick auf Aufstandsbekämpfung. Nach deren Sicht hätte sich das Problem erledigt, wenn die RAF-Mitglieder tot sind.

Warum war die Möglichkeit, dass die Stammheim-Häftlinge Selbstmord begangen haben, so lange ein Sakrileg in der RAF und ihrem Umfeld?

Sicher auch aus Selbstschutz. Wir hatten uns nach der Entführung der Landshut politisch und moralisch delegitimiert. Der Selbstmord der Gefangenen hätte unweigerlich die Frage ins Zentrum gerückt, wieso wir weiter machen, wenn die Stammheimer schon das Ende akzeptiert hätten.

Das macht aber nicht plausibel, warum die RAF die Frage "Mord oder Selbstmord" 20 Jahre tabuisiert hatte...

Ich wollte die Loyalität zum Kollektiv RAF nicht aufkündigen. Jedes kritische Wort hätte in den Siebzigern und Achtziger sofort zur Folge gehabt, dass man als Aussteiger durch die Medien gezerrt wird.

Warum hat die RAF einfach so weitergemacht? Hätte sie nach der politischen und moralischen Niederlage von 1977 die Frage nach der Legitimität ihres Kampfes nicht neu stellen müssen?

Ich möchte uns, die Gefangenen, in dieser Hinsicht ein wenig in Schutz nehmen. Wir wurden 1977 und '78 24 Stunden lang drangsaliert – durch Schlafentzug, Prügel und Zwangsernährung bei Hungerstreiks. In dieser Situation konnten wir uns den Ereignissen von 1977 nicht kritisch stellen.

Warum gab es diese Aufarbeitung dann nicht später, in den Achtzigern?

Wir haben 1981, 1984/1985 und 1989 unser Leben in Hungerstreiks aufs Spiel gesetzt, um die Zusammenlegung der RAF-Gefangenen zu erreichen. Die wollte ich nicht, damit wir gemeinsam Kuchen backen können. Ich wollte, dass wir als Gruppe über unsere Politik wieder gemeinsam bestimmen können.

Wäre es notwendig und richtig gewesen, die RAF 1977 zu beenden?

Es wären notwendig gewesen, alles in Frage zu stellen. Wir hätten davon wegkommen müssen, dass das, was als bewaffneter Kampf begonnen hatte, auch zwangsläufig bewaffnet fortgeführt werden muss.

Sie waren am 24. April 1975, an der Botschaftsbesetzung in Stockholm beteiligt. Diese Aktion hat vier Menschen das Leben gekostet und ihr Ziel, die Gefangenen zu befreien nicht erreicht. Wie sehen Sie sie heute?

Ich habe das schon oft gesagt: Die Geiselerschießungen waren weder politisch noch moralisch legitim. Gleichzeitig hätte ich gerne die Gefangenen befreit.

Sie sagen auch, dass Sie den Tod der Botschaftsangehörigen in Stockholm schon seit langer Zeit bedauern, aber sprechen nicht von "Reue", ein Begriff, der in der heutigen öffentlichen Diskussion immer auftaucht. Wie sieht Ihr Verhältnis zum Thema "Reue" aus?

"Reue" ist medial doch nur ein Maßstab, an dem die Unterwerfung gemessen wird. Mit dem Begriff "Reue" versucht man, uns zu unreflektierten, nicht-politischen Äußerungen zu bewegen. Dieser Inszenierung muss man sich verweigern.

Sie wollen also in den Medien nicht über Reue sprechen?

Nein.

Warum war für Sie Mitte der 70er Jahre der bewaffnete Kampf unumgänglich?

Befreiung und Militanz schienen für uns damals zusammenzugehören. Ich war der Überzeugung, dass die Revolte von 1967 zerfallen würde, wenn wir dem Protest auf der Straße nicht eine strategische Ausrichtung geben würden. Das Modell Stadtguerilla lag damals sozusagen in der Luft. Unsere Erfahrung war, dass alles außerhalb des bewaffneten Kampfes nicht registriert wird und bedeutungslos bleibt.

Halten Sie ihn heute, im Rückblick, noch immer für legitim?

Ich halte ihn zunächst mal im Klima der damaligen Zeit für plausibel. Die RAF war als Antwort auf den Kriegsimperialismus, der sich in Vietnam austobte, auch in gewisser Weise legitim. Was die Zeit nach 1975 betrifft, nach dem Ende des Vietnamkriegs, waren wir, wie auch die gesamte Linke, nicht in der Lage, der kapitalistischen Normalität mit einer inhaltlichen Transformation zu begegnen. Insofern war die Legitimitätsgrundlage des bewaffnete Kampf mehr als prekär. Es gab nur noch die Begründung, dass die politischen Gefangenen als Fundamentalopposition vernichtet werden sollen. Das war unsere moralische Legitimation: Dass wir unsere Genossen nicht alleine lassen dürfen. Aber als Revolutionsstrategie war die RAF nicht mehr legitim.

Heute gilt die Rede von der "Vernichtungshaft" als Propaganda, um neue RAF-Kämpfer zu rekrutieren. Man verweist auf die Situation der RAF-Gefangenen im 7. Stock von Stuttgart-Stammheim. Sie hatten gemeinsamen Umschluss, konnten massenweise Bücher erhalten und miteinander diskutieren.

Das ist eine nachträgliche Geschichtsklitterung. In Stammheim während des Prozesses mag es anders gewesen sein, aber davor und danach gab es sowohl Isolation als auch sensorische Deprivation.

Interview: Tina Petersen, Christoph Twickel


Zur Person
Karl-Heinz Dellwo, Jahrgang 1952, stieß Mitte der Siebziger zur RAF. Nach der Besetzung der deutschen Botschaft in Stockholm am 24.4.1975 wurde er zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt. 1995 kam er frei. Dellwo arbeitet als Dokumentarfilmer in Hamburg.

Der Text ist ein gekürzter und aktualisierter Ausschnitt aus Karl-Heinz Dellwos gerade erschienenem Buch "Das Projektil sind wir. Der Aufbruch einer Generation, die RAF und die Kritik der Waffen. Gespräche mit Tina Petersen und Christoph Twickel", Edition Nautilus, 224 Seiten, 13,90 Euro.

 

Die Schleyer-Entführung kommentiert Dellwo in dem Buch anders als sein ehemaliger RAF-Genosse Rolf Clemens Wagner, der die Aktion jetzt als "richtig" bezeichnet hat: "Gerade an ihm hätten wir unsere Analyse und Politik vermitteln können", sagt Wagner. Kritischer argumentiert Dellwo: Die RAF sei bereit gewesen, "militärisch zu eskalieren, ohne zu wissen, ob das für die, die wir ansprechen wollten, überhaupt tragbar war". Die Entführung der "Landshut" nennt er "Verrat an dem, für das die RAF früher stand". - "Hier wurde das Volk angegriffen."

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RAF: "Kritik war nicht denkbar"