Esther Bejarano ist am 10. Juli 2021 im Alter von 96 Jahren gestorben.
Wir werden sie vermissen, diese tolle Frau, die mit vielen anderen so unendlich durch die Nazis und in Auschwitz erlitten hat und doch nie besiegt wurde. Wir werden die Gespräche mit ihr vermissen, ihren Witz, ihre Schalkhaftigkeit, die Ironie, mit der sie uns selbst oft bedachte und die in ihrer Person fest verankerte Humanität. Und die Selbstverständlichkeit, mit der sie sich gegen alles Unrecht in unserer Welt positionierte.
Ihr Verstand hat bis zuletzt funktioniert. Sie war nicht ohne Angst, sie hat sich große Sorgen gemacht um die Zukunft, dabei jedoch immer auf die Jugend vertraut. Sie war mutig, auch weil sie wusste, dass ihre Sache richtig ist: keinen Fußbreit einem Nazi, einer Faschistin, einer Rassistin, einem Ausländerfeind, einem Ausbeuter – egal, ob diese Leute offen auftreten oder, wie so oft, ihre reaktionären Positionen demokratisch ummanteln und sich über »Alternativlosigkeit« und den Zwang des »freien Marktes« legitimieren. Für Nationen hat sie sich nicht interessiert. Die hat sie eher als Problem gesehen. Für sie waren alle Menschen gleich und sollten gleich und glücklich leben können. Das war ihr Traum von einer Sache, entstanden aus ihrer eigenen Lebenserfahrung. Vor ihrem eigenen Tod hatte sie keine Angst. »Wenn ich sterbe, dann müsst ihr mich begraben«, äußerte sie einst in ruhigen Worten gegenüber dem Autor dieses Textes. Sie wusste, dass nicht wir das Leben besitzen, sondern das Leben uns. Und für sie galt: was wir nicht haben, können wir nicht verlieren. So lautet auch eines ihrer Lieblingslieder: »Mir lebn eybik, mir zenen do«.
Esthers Tod hinterlässt eine Leerstelle. Während des Schreibens dieses Textes kommt die Meldung, dass die Überlebende aus Auschwitz und Buchenwald und enge politische Weggefährtin von Esther Bejarano, Éva Fahidi-Pusztai, im Alter von 97 Jahren gestorben ist. Ihre gesamte Familie war in Auschwitz ermordet worden. Die Welt verliert unaufhaltsam nach und nach die überlebenden Opfer von Auschwitz und damit den mit ihnen unabweisbar verbundenen, aus den Lagern kommenden Blick über die in ihr enthaltenen Vernichtungsmöglichkeiten. Niemand kann die Bedeutung dieser Menschen für uns ersetzen. Es scheint heute ein weiter Weg zu sein in eine Welt, deren Grundlage das Wiedererkennen im anderen und die gegenseitige Solidarität ist. Esther hat auf diesem Weg nie Halt gemacht.
Mit dem Verlust dieser Menschen ist die Gefahr der Instrumentalisierung des Gedenkens für politische Zwecke noch größer geworden. Machtinteressen kennen in der Regel keine Scham und keine Grenze: 1999 versuchten Politiker den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg der NATO gegen Serbien, den ersten in Europa nach 1945, mit Auschwitz zu legitimieren. Der Tabu-Bruch forderte offenkundig eine extremistische Begründung, um Widersprüche zum Schweigen zu bringen. Regelmäßig werden Gegner der eigenen Interessen von den kriegsbereiten Kindern und Enkeln der Nazigeneration als Wiedergänger des deutschen Nationalsozialismus markiert. Noch mehr aber herrscht auch im Alltagsbetrieb der Politik die Haltung, das Grauen, das mit den Naziverbrechen verbunden ist, von der alten Welt zu isolieren und abzutrennen, als ob es nicht aus ihr hervorgebrochen wäre. Esther wusste: Das »Nie wieder!« hat nur dann eine soziale und politische Realität, wenn es sich gegen die Strukturen stellt, aus denen Auschwitz entstanden ist – und Auschwitz steht hier als Synonym für die gesamte Vernichtungspraxis der Nazis. »Die endgültige Vernichtung des Faschismus mit seinen Wurzeln ist unsere Losung«, hieß es im erweiterten Schwur aus Buchenwald, der nie zur Grundlage der angeblich neuen Nachkriegsgesellschaften geworden ist, in der alte Nazis Jahrzehnte lang das Sagen hatten und die Reflexion über die Vergangenheit kontrollierten. Während das Wissen von der Herkunft des Grauens von Auschwitz aus den noch immer herrschenden Zuständen heraus aus der Welt geschafft werden soll, greift um so mehr der politische Anspruch Raum, dass die Menschen funktionieren müssen in einem vorgeblich nicht zu ändernden Ganzen, in dem sie nach Möglichkeit keine Reibung erzeugen sollen. Von freier Verantwortlichkeit und tatsächlichem Subjektsein finden sich kaum noch Spuren in der gesellschaftlichen Realität: Die postulierte Verantwortlichkeit und das behauptete Subjektsein der Menschen aber gehört zur demokratischen Fassade. Bestimmt wird die Gesellschaft von der Logik des Kapitalismus, der alles erlaubt, solange nicht angetastet wird: Die Dauerschleife der Verwertung von Mensch und Natur für den Profit, aus dessen Verfügung sich dann Macht und Herrschaft ableiten lassen.
Esther Bejarano war am Ende ihres Lebens von zwei Wünschen beseelt. Am 3. Mai 2021 wollte sie den Ort besuchen, wo ihre Befreiung am 3. Mai 1945 stattgefunden hatte, die kleine Stadt Lübz in Mecklenburg-Vorpommern, und dort mit US-amerikanischen und russischen Soldaten gemeinsam den Sieg über den Nazi-Staat feiern. Dafür fand sie bei den damaligen Verbündeten keine Unterstützung: Längst stehen sich die globalen Mächte wieder feindlich gegenüber und sagen jeder gemeinsamen Symbolik ab. Der Krieg ist auch hier zurück und wird von der zweiten Nachkriegsgeneration mit großem politischen und medialen Aufwand in den Alltag integriert und normalisiert. Die Länder des globalen Nordens, die ihren Reichtum aus der Welt herausgepresst haben, wollen keine Änderungen in den Machtverhältnissen, obwohl sie nur einen kleinen Teil der Menschheit abbilden. In der Erfüllung der Lebensbedürfnisse gibt es kein Recht auf Privilegien und Sonderrechte. Dass es auch in Europa wieder zum Krieg kommt und der Krieg in aller Offenheit wieder zum Mittel der Politik wird, war für Esther Bejarano ein unerträglicher Gedanke. Gegen die »Festung Europa« mit den zehntausenden im Mittelmeer Ertrunkenen, die einer Armut entfliehen wollen, die nur die andere Seite des Reichtums in den Metropolen ist, hat Esther ihre Solidarität mit den Flüchtenden gesetzt.
Ihr zweiter Wunsch war, dass der 8. Mai, der Tag der deutschen Kapitulation, gesetzlicher Feiertag wird. Die ganze Welt, die unter großen Opfern gegen den Nazi-Faschismus gekämpft oder unter seinem Terror gelitten hat, feiert den 8. Mai (oder den 9. Mai) als einen Tag der Befreiung, einen Tag auch des Glücks, in dem einem realen Alptraum zumindest für einen weltgeschichtlichen Augenblich Einhalt geboten wurde. Esther wusste, dass die deutsche Kriegsgeneration diesen Tag als Tag der Niederlage erfahren hatte und nicht feiern wollte, weil die meisten selbst durchgehend oder lange Zeit Teil des Systems waren. Aber die Generationen, die danach gekommen sind, können sich mit dem Sieg über die Nazis identifizieren, denn dadurch ist ihnen das Schicksal erspart worden, im Faschismus aufzuwachsen.
Für den Wunsch, den 8. Mai als Feiertag zu erkämpfen, fand sie auf der politischen Ebene keine Unterstützung. Er passt nicht in die neue Zeit offener Gewalt. Esthers Wunsch zu erfüllen, bedeutet heute, weit über die Niederlage der Nazis hinauszudenken und die Begriffe von Faschismus und Antifaschismus auch an den Phänomenen zu schärfen, in denen heute die Wiederkehr des Grauen droht.
Freiheit für Julian Assange.
Karl-Heinz Dellwo, September 2023