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"Die Jungs und Mädchen von dort kommen dann später"

Interview der Zeitschrift Revista Nr. 34

Im Januar hatte der Rosa-Luxemburg-Club den Hamburger Filmemacher Karl- Heinz Dellwo eingeladen, im Kino 8 ½ seine Dokumentation "Neben der Spur" [1] vorzustellen. Der Film widmet sich der sozialpädagogischen Arbeit des Jugendheims "Putenhof Belitz" im Wendland und der Bedeutung, die dabei der intensive Kontakt der Einrichtung zur Gedenkstätte Terezin/Theresienstadt hat. Ausführlich kommen die Jugendlichen an beiden Orten zu Wort; im Jugendheim, wo sie ihre Arbeits- und Lebenssituation und die damit verbundenen Hoffnungen kommentieren, wie auch in der heutigen Gedenkstätte Terezin, wo sie ihre Gefühle und Erfahrungen in der Konfrontation mit dem Gedenken an den nationalsozialistischen Terror schildern. Wir haben die Gelegenheit genutzt, Karl-Heinz Dellwo zum Film und seiner besonderen Beziehung zu Celle zu befragen.

Revista: Du warst Mitglied des Kommandos der "Rote Armee Fraktion" (RAF), das 1975 die Stockholmer- Botschaftsbesetzung durchgeführt hat, und hast dann 20 Jahre in Düsseldorf und Celle in Gefängnissen gesessen. Hat es für dich eine besondere Bedeutung, den Film jetzt auch in Celle vorzustellen?

Vielleicht hätte ich die Frage vor der Filmaufführung so beantwortet: Wenn ich in Celle bin, bin ich fast schon automatisch in einer bestimmten Geschichte drin, der Gefängniszeit, dem Hochsicherheitstrakt, Isolation, Hungerstreiks und anderem, aber auch einem Herauskommen, in dem ich mich gelassen und selbstsicher gefühlt habe. Zu meiner Überraschung kam zur Filmaufführung der ehemalige Anstaltsleiter Kühling, der Mann, der von JVA-Seite das "Celler Loch" [2] abgedeckt hat, der damals u.a. geholfen hatten, Sigurd Debus mit gefälschten "Beweisen" wieder zu isolieren, der unnachahmlich, wenn er in der Öffentlichkeit über den Hochsicherheitstrakt sprach, die kleine Durchreiche in der Zellentür z.B. als "Futterklappe" bezeichnete, da es für ihn scheinbar Vieh war, was auf der anderen Seite gefangen gehalten wurde. Herr Kühling schien unbedingt Fragen loswerden zu wollen. Ob ich wirklich ein Studio habe in Hamburg, wie ich wohne? Ob ich eine Eigentumswohnung hätte? Ob ich in einer Beziehung lebe, Freunde hätte, ob ich noch Kontakt zu den beiden anderen hätte (Knut Folkerts und Lutz Taufer [3]), ob mir noch jemand zu einer Ausbildung verholfen hätte, wie ich denn filmen könnte? usw., soviele Fragen, als könne er irgendetwas nicht glauben. Dann kam die Frage: "Träumen Sie nachts noch oft von Celle?" Sie hat mich völlig verblüfft und auf der ganzen Rückfahrt begleitet. Selten habe ich eine Frage gestellt bekommen, die soviel von der eigenen Absicht transportierte! Was ist die Erwartung dahinter? Was ist sein Selbstverständnis? Das er sich im Gefangenen sadistisch verankert hat und ihn bis zum Ende des Lebens als Albtraum mitgegeben ist? Ich bin immer noch verblüfft, wie man sich so enthüllten kann. "Nein, noch nie, ich träume nie vom Gefängnis", war meine Antwort und so ist es auch. Deswegen möchte ich die Frage, ob es eine besondere Bedeutung hat, wenn ich in Celle bin, jetzt mit einem "Ja" beantworten. Und hinzufügen: "Es war eine stille, sehr dauerhafte, manchmal aber auch sehr offene Gewalt, oft hatte ich Zweifel darüber, dass ich es durchstehe. Aber gegen alles haben wir uns nie verloren, auch wenn es uns manchmal fast das Leben gekostet hat und Sie, Herr Kühling, und noch ein paar andere, Sie sind für unser Leben trotz allem so etwas von unwichtig, das man nachsehen muss, wie ihr Name geschrieben wird; Sie haben in der Gesellschaft weder etwas Gutes, noch bei uns etwas Böses hinterlassen."

Revista: Wie bist du zum Filmemachen gekommen und was hast du bisher für Projekte realisiert?

Ich hatte mich schon im Gefängnis mit Filmtheorien beschäftigt. Bilder gegen die Isolation und den toten Raum um uns. Nach der Entlassung habe ich dann irgendwann angefangen, lange Zeit nur Kamera, dann aber auch Schnitt und Konzeption. Die Filme, die ich selber auch komplett konzipiert habe, sind in den letzten Jahren "Himmel...graulos...", "Neben der Spur" und den Film für amnesty international, "du kannst". [4] Daneben diverse kleinere.

Revista: "Neben der Spur" ist ein Film auch über Heimerziehung. Den älteren unserer LeserInnen wird eine Parallele zu den Protagonisten der so genannten ersten Generation der RAF auffallen. Ulrike Meinhof hatte ja 1969 mit "Bambule" einen Film zu der damaligen Situation in deutschen Erziehungsheimen produziert, der dann über 20 Jahre im Giftschrank der öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten verschwand. Ihr Thema: Heimerziehung als Repression und autoritäres Zuchtmittel, und gegen die taugt - gewissermaßen in Analogie zur ganzen Gesellschaft - nur Revolte was. Heimerziehung hat sich gewandelt, zumindest in Projekten wie dem "Putenhof". Trotzdem kann man ja skeptisch sein, was die Chancen der Jugendlichen auf ein halbwegs selbstbestimmtes Leben angeht. Manche der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen haben sich ja gegenüber 1970 sogar verschärft. Ich hatte den Eindruck, dass sowohl Erzieher wie Jugendliche diesem Aspekt eher ausweichen und damit auch dein Film.

Der Eingang zum ehemaligen KZ Theresienstadt; einmal im Jahr beteiligt sich eine  Gruppe der Jugendlichen des Putenhofs an einem  Workcamp in der heutigen Gedenkstätte.

Ja, die Frage scheint mir rhetorisch gut. Man kann nicht nur "skeptisch sein", was die Perspektive dieser Jugendlichen betrifft. Alles scheint für sie schon verloren. Und doch! Man muss etwas tun. Es ist wichtig, dass sie nicht im bewusstlosen Destruktiven untergehen, es ist wichtig, dass sie überleben. Es ist wichtig, dass sie einen Raum haben, der ihnen wenigstens hilft, etwas zu finden, wo sie bei sich sind. Diese Arbeit löst keine gesellschaftlichen Grundwidersprüche. Das kann aber nicht das Alibi dafür sein, nichts zu tun. Das Wort "Revolte" klingt gut, es ist leicht auszusprechen. Aber man muss auch zur Revolte befähigt sein. Und nur Menschen, die ein Bild über sich selber finden, werden dazu befähigt sein. Ich habe keinen Film über Heimerziehung als Repression gemacht. Mir ging es darum Jugendliche zu zeigen, die, wenn man ihnen nahe kommt, ungemein einnehmen und bewirken, dass man sich auf ihre Seite stellt. Insoweit weicht der Film nirgendwo aus. Lassen wir diesen Jugendlichen doch erst einmal diesen Raum, in dem sie Atem holen können. Das scheint das, was sie von ihrer Geschichte her am nötigsten brauchen. Die, denen es besser geht, die sollen mit der Revolte, wenn sie denn wissen, was ihr Inhalt ist, schon mal anfangen. Die Jungs und Mädchen von dort kommen dann später nach.

Revista: Wie gehst du damit um, dass viele der Leute, die deinen Film sehen, deine Biografie im Hinterkopf und dadurch vielleicht bestimmte Erwartungshaltungen haben?

Ich bin bemüht, wenn wir nach dem Film diskutieren, dass die Diskussion auch am Inhalt des Filmes läuft und nicht an meiner Biografie entlang. Ich blocke dann auch mal gerne Frage zur Biografie mit dem Hinweis ab, dass ich gerne dazu bereit bin, aber dann auf einer anderen Veranstaltung.

Revista: Beschäftigst du dich aktuell mit neuen Stoffen oder Projekten?

Ja, zur Zeit arbeite ich an einer Dokumentation über eine Ausstellung über die Geschichte der Psychoanalyse in Deutschland. Dann habe ich zwei komplexere Filmideen, die sind aber erst noch am reifen. So etwas zu realisieren ist nicht einfach, denn die bisherigen Filme waren low-budget-Filme und diese Projekte wären so nicht mehr zu realisieren.

Revista: Schon im Zusammenhang mit der Diskussion um die mögliche Entlassung von Brigitte Mohnhaupt und Christian Klar gab und gibt es einen erstaunlichen Medienhype, der sich zum 30. Jahrestag des so genannten Deutschen Herbstes sicherlich noch steigern wird. Wie erlebst du dieses "Interesse"?

Eine hysterische Diskussion. Sie ist von ihrem sich überschlagenden, regelmäßig auch gegenseitig sich ausschließenden Inhalts unbedeutend und nur als eigener Tatbestand von Interesse. Im "Freitag" letzter Woche las ich in einem Artikel von Heinrich Senfft [5], dass die Nazis "zwar gemordet und alles kurz und klein geschlagen (haben), aber sie haben die - westdeutsche - Gesellschaft nie in so existenzielle Unruhe, ja Hysterie, versetzt wie die Studentenrevolte und die Versuche, die westdeutsche Restaurationsgesellschaft zu verändern." Ja, das ist eine Überlegung wert. Man könnte auch gleich sagen: Die einen haben im Kontext des herrschenden gesellschaftlichen Konsens ihre barbarische Gewalt ausgeführt und wir standen mit unserer Gewalt außerhalb der Gesellschaft. Deswegen sind unsere Taten im medialen Raum inzwischen das Ungeheuerliche an sich. Ansonsten sage ich mir bei dieser Hetze und dem Schüren von Hass, Rache, Gnadenlosigkeit und sadistischen Fantasien als gesellschaftliche Grundstimmung, dass man gut beraten ist, wenn man seinen kleinen
Reisekoffer nicht all zu weit entfernt deponiert.

[1] Neben der Spur. Regie, Kamera und Schnitt: Karl-Heinz Dellwo. DVD, 81 Minuten. Als DVD kann man den Film für 20 Euro bestellen über: http://www.bellastoria.de

[2] Mit dem "Celler Loch" ist nicht die ehemalige Kult-Kneipe in der Bahnhofstraße gemeint, sondern jenes, das durch den im Jahr 1978 vom Verfassungsschutz veranlassten Sprengstoffanschlag in der Außenmauer der Celler JVA entstand. Der Öffentlichkeit wurde vorgegaukelt, es sei ein Versuch gewesen, den in Celle einsitzenden Sigurd Debus zu befreien. Debus war der erste Gefangene im 1978 eingerichteten Hochsicherheitstrakt. Er war u.a. verurteilt worden wegen eines Banküberfalls im Zusammenhang mit dem Versuch, eine Hamburger Stadtguerillagruppe aufzubauen. Mit Verweis auf das "Celler Loch" wurden immer wieder die rigiden Haftbedingungen für Sigurd Debus uns andere begründet. Er starb im Hungerstreik gegen diese Haftbedingungen am 16. April 1981 im Hamburger Knast Fuhlsbüttel.

[3] Nach dem Hungerstreik der RAF 1981 war im Celler Hochsicherheitstrakt eine Kleinstgruppe zusammengelegt worden: Lutz Taufer, Karl-Heinz Dellwo und Knut Folkerts, die bis zu ihrer Haftentlassung 1995 bzw. 1996 bestand.

[4] Mehr zu diesen Filmen auch unter http://www.bellastoria.de

[5] Heinrich Senfft: Gnade? Gnade! KOMMENTAR - Wie lange soll das "Lebenslänglich" für Mohnhaupt und Klar noch dauern?: in: Freitag. Die Ost-West-Wochenzeitung, Nr. 05 / 02.02.2007. (http://www.freitag.de/2007/05/07050202.php)

# Als Podcast lässt sich übrigens ein aktuelles Interview von Jürgen Wiebicke (WDR) mit Gabriele Rollnik (beteiligt an der Lorenz-Entführung) und Karl-Heinz Dellwo (beteiligt am RAF-Anschlag in Stockholm) - Titel: "Die Sehnsucht nach dem großen Sprung - Ex-Terroristen über ihr Leben im Untergrund (15.03.2007)" downloaden:
http://medien.wdr.de/download/1174030705/radio/fhgespraeche/ fhg_070315.mp3